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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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die alte Heimat, zurückgekehrt war, die Suche nach dem Vater wieder aufgenommen und sich auf eine Odyssee bis nach Chile begeben hatte, aus der Überzeugung heraus, dass der Vater doch noch irgendwo lebte.
    »Und dann ist deine Mutter bei mir aufgetaucht, quasi aus dem Nichts heraus, und hat den Staub von dieser alten und hässlichen Geschichte gepustet. Das war alles andere als erfreulich.«
    »Sicher hat sie mit dem ihr eigenen Taktgefühl genau die richtigen Worte gefunden, um dich vor den Kopf zu stoßen.«
    »Na ja, es ist und bleibt eine hässliche Geschichte. Und ich wollte mich auf keinen Fall mit ihr beschäftigen müssen. Aber vor allem wollte ich nicht, dass
andere
sich mit ihr beschäftigten.«
    Unvermittelt fragte ich ihn: »Meine Mutter hat dir nie von der Autobiografie meiner Großmutter erzählt?«
    Er räusperte sich, schien nachzudenken und gestand dann: »Sie   … hat davon erzählt.«
    »Dachte ich’s mir. Du wusstest also davon!«
    »Ja. Ich wusste davon. Tut mir leid. Ich   … wollte um jeden Preis verhindern, dass diese böse alte Geschichte wieder aufgewärmt wird. Ich dachte, wenn ich mich unwissend stelle…«
    »Gebe ich einfach auf? Das hast du geglaubt?«
    »Na ja, nicht wirklich. Ich habe es wohl gehofft.« Er lächelte zerknirscht. Dann fragte er: »Aber   … du hast sie nicht gelesen?«
    »Nein. Sie ist   … verschwunden. Ach, lassen wir das jetzt.« Ich nahm einen Schluck von dem Veltliner. »Aber sag mir, wie hast du eigentlich reagiert, als meine Mutter vor dir stand? Und warum hat sie dich nicht einfach in Husum besucht? Zu der Zeit warst du doch noch in Deutschland, oder?«
    »Halb und halb. Da bin ich schon zwischen Deutschland und Florida gependelt.« Er verstummte, schien jedoch noch etwas sagen zu wollen. Er nahm einen Schluck Wein, sah mich an und begann zögernd zu sprechen: »Überhaupt hat sich vieles verändert   … seit jenem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben. Ich   … meine Frau hat mich verlassen.« Er verzog das Gesicht zu einer schiefen Grimasse, hob sein Glas und prostete mir zu.
    »Oh, das   …«, hob ich an, doch er unterbrach mich: »Sag nichts. In unserer Ehe hat es schon länger gekriselt. Sie wollte   … will partout nicht in die USA.   Und dann kam zu meiner beruflichen Entscheidung noch die Beschäftigung mit meiner Vergangenheit hinzu.
Krankhafte Besessenheit
, so nannte Linda mein Interesse daran.«
    »Klingt irgendwie vertraut«, sagte ich und lächelte meinerseits schief.
    »Du meinst, weil ich das über deine Mutter gesagt habe.«
    Mein Grinsen wurde breiter. »Ja. Und weil es uns, so wie’s aussieht, alle erwischt hat.«
    »Da haben sich ja die beiden Richtigen gefunden.« Er sah mich lange an, zu lange, und mir wurde heiß. Dann hob er die Hand und berührte ganz sacht mit dem Daumen meine Wange, zog mich ebenso sacht zu sich heran und flüsterte meinen Namen. Ich versuchte etwas zu sagen, aber alles, was ich herausbrachte, war ein ersticktes »Ich   …« Eine Weile lang sagte keiner mehr etwas und wir saßen einfach so da, sahen uns an. Und plötzlich wusste ich, dass ich dabei war, mich an einen anderen Menschen zu verlieren, ich wusste es, und doch gab es nichts, was ich mir sehnlichster wünschte, in diesem Augenblick.
    »Und jetzt?« Wie von fern drang Romans Stimme zu mir vor. Ich fühlte mich benommen, der Alkohol war mir zu Kopf gestiegen, ich lehnte mich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Wolfs Gesicht blitzte vor mir auf und verschwand wieder. »Jetzt?«, wiederholte ich, und als ich die Augen wieder aufschlug, lag sein Blick immer noch auf mir, wanderte über mein Gesicht, blieb einen Augenblick an meinen Lippen hängen und glitt weiter über meinen Hals und Oberkörper. Und plötzlich hörte ich mich selbst flüstern: »Ich möchte weitertrinken und den Tag vergessen und alles soll einfach und leicht sein. Nur für ein paar Stunden.«
    »Dann lass uns das tun«, sagte Roman. »Aber nicht hier.«
    »Nein, nicht hier.«
    Inzwischen waren wir, abgesehen von einem hartnäckigen Zecher, der an der Bar saß, Bier trank und Zeitung las, die einzigen Gäste. Als wir hinaustraten, berührte der Tag bereits den Abend und das Licht war dick und grau und hüllte uns ein wie Watte. Und als wir die wenigen Schritte bis zu Mutters Wohnung zurücklegten, war das Einzige, was es für mich indiesem Moment gab, dieser Mann, der da neben mir ging und meine Hand hielt.
    Wie geübte Trinker blieben wir bei der bereits

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