Herbstvergessene
zwei Gläser voll. Beide Gläser in der Hand steuerte ich das Wohnzimmer an in der Erwartung, jeden Augenblick den Geruch von Erbrochenem in die Nase zu bekommen. Doch als ich um die Ecke bog, hielt ich abrupt inne: Der Raum war mustergültig sauber, die Kissen penibel angeordnet, es standen keine Flaschen und Gläser mehr herum, auch keine Reste von Knabberzeug: Nichts deutete darauf hin, dass hier am Vorabend jemand seinen Mageninhalt entleert hatte. Ich trat ein paar Schritte näher,schaute mich um, ob vielleicht irgendwo eine Nachricht für mich lag, sah jedoch nichts. Außer dem Spiegelbild einer bleichen Frau mittleren Alters, mit ungekämmten Haaren und verschmierter Wimperntusche.
Ich fand die Nachricht an der Wohnungstür:
Ich habe heute einen wichtigen Termin in München. Ich wollte dich nicht wecken, du hast so tief geschlafen. Ich ruf dich an, Roman .
Ein wahrer Gentleman, dachte ich und mein Gesicht brannte schon wieder von der Scham der Erinnerung. Kein Wort davon, wie ich mich betrunken hatte. Kein Wort davon, wie ich die Kontrolle über die Situation (und über meinen Körper) verloren hatte. Kein Wort davon, wie er die stinkende Körperflüssigkeit beseitigt, den Teppich geschrubbt, aufgeräumt, mich gewaschen und ins Bett verfrachtet hatte. Denn all das musste er getan haben, weil
ich
dazu nicht mehr in der Lage gewesen war. Sicher hatte er gar keinen Termin in Deutschland und hatte mir und sich nur die Peinlichkeit ersparen wollen, nach diesem Totalausfall neben dem anderen aufzuwachen.
Während der Kaffee durch die Maschine lief, tastete sich mein Erinnerungsvermögen an die Frage heran, die ich seit dem Aufwachen weiträumig umschifft hatte, die sich nun aber nicht länger unter dem Deckel halten ließ: Was war passiert,
bevor
mein Körper außer Kontrolle geraten war? Einzelne Szenen blitzten auf, seine nackte Haut im Kerzenschein, sein Gesicht über mir, ganz nah, doch irgendwo auf der Strecke riss der Film, ein Stück fehlte, es war wie herausgeschnitten. Und dann erst fiel mir ein, dass ich an einem denkwürdigen Tag im Januar eine Dreimonatspackung mit winzigen Pillen in das Abwassersystem meines Wohnorts geleitet hatte.
Nach meinem späten Frühstück und der Einnahme von zwei Ibuprofen fiel mir plötzlich der eigentliche Grund meines Wien-Aufenthalts ein: Dr. Prohacek, den ich einfach so versetzthatte. Ich rief sofort bei ihm an, doch niemand meldete sich. Sicher war er um diese Zeit in seiner Praxis, also besorgte ich mir die Nummer bei der Auskunft. Doch als ich schließlich dort anrief, hörte ich die automatische Ansage, dass die Praxis nur bis 12 Uhr besetzt sei. Ich überlegte kurz, was ich nun tun konnte, und fand, dass es meine Pflicht und Schuldigkeit war, mich persönlich zu Dr. Prohacek zu begeben, auch wenn er höchstwahrscheinlich nicht zu Hause wäre. Ich schrieb ein paar Zeilen, steckte die Karte in einen Umschlag und machte mich auf den Weg. Ich schritt rasch aus und der Gang dauerte nur zehn Minuten. Wie erwartet reagierte niemand auf mein Klingeln und so steckte ich meine Karte in den Briefkasten. Die frische Luft hatte mir gutgetan und so beschloss ich, noch eine Extrarunde zu drehen.
Mein Blick verfing sich in den Schaufensterauslagen,
H&M , Zara
und so weiter. Flüchtig dachte ich daran, dass die Schaufenster dieser Welt sich immer mehr glichen. Ich sah in die Gesichter der Vorbeigehenden, auf die Rücken der vor mir hergehenden Menschen. Und schließlich merkte ich, dass ich gerade an der Filiale der
BAWAG
vorbeiging, in der Lore Klopstock meine Mutter kurz vor ihrem Tod gesehen hatte, das letzte Mal. Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb schließlich ganz stehen. Und da sah ich sie plötzlich vor mir, in einer Deutlichkeit, als handelte es sich um eine reale Erinnerung, wie sie dort hineinging, in ihrer zielstrebigen Art, das Kinn leicht erhoben, den Blick, der mich als Kind so oft das Fürchten gelehrt hatte, entschieden geradeaus gerichtet. Und trotz dieser alles andere als angenehmen Erinnerung füllten sich meine Augen mit Tränen, die ich wegzublinzeln versuchte und die doch ihren Weg nach unten fanden. Die Glastür öffnete sich, ein Mann mit einer roten Schirmmütze kam heraus, stutzte kurz und ging an mir vorbei. Ich nahm meinen Weg wieder auf. Ich musste das alles endlich hinter mir lassen, ich musste diese Wohnung verkaufen, auch wenn sie noch so schön war, ich musste mein eigenes Leben wiederaufnehmen. Ja, ich würde ihre Sachen
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