Herbstvergessene
auf, meine Bewegungen waren fahrig, jetzt konnte es mir nicht schnell genug gehen. Und so kippte ich den Umschlag um und schüttelte. Mit einem leisen Klimpern landete er auf dem Tisch: der kleine Schlüssel, über dessen Zugehörigkeit ich wochenlang gerätselt hatte. Ich betrachtete ihn genau. Ja, das konnte der Schlüssel eines Bankschließfachs sein, obwohl ich mit solchen Dingen keinerlei Erfahrung hatte. Ich klappte die Hand zu, schloss meine Finger um das Metall. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es zehn vor drei war. Ich konnte also sofort zur Bank gehen und mir Gewissheit verschaffen. Ich schaltete den Laptop ein und sah nach, wie lange die
BAWAG
-Filiale geöffnet hatte. Sie schloss um drei.
Den ganzen Weg bis zur Mariahilfer Straße rannte ich. Meine Kopfschmerzen hatten sich ins Unermessliche gesteigert und jeder Schritt schien meine Schädeldecke fast zum Bersten zu bringen. Als ich um die Ecke bog, sah ich, dass ein missmutig dreinschauender Bankangestellter gerade dabei war, die Trennwand zwischen der Schalterhalle und den Automaten herunterzufahren. Mit einem Satz war ich bei ihm und stammelte: »Ich muss unbedingt noch an ein Schließfach. Ich …«
Widerwillig löste der Mann seine Hand vom Knopf und bedachte mich mit einem Blick, der zeigte, dass er sich gestraft fühlte durch die Welt im Allgemeinen und mich im Besonderen: »Sie sähn doch, dass olls schon zu is.«
»Aber … Sie sind doch noch da. Könnten Sie nicht vielleicht eine Ausnahme machen. Bitte.«
»Liebe Frau, wenn’s nach den Kunden ginge, würden die Ausnahmen hier bald die Regel werden. Wir schließen um drei und jetzt ist es fünf nach.« Er sah mich vorwurfsvoll an.
»Ich weiß und es tut mir auch sehr leid, aber ich komme gerade aus Deutschland und mein Flieger hatte Verspätung und ich bin hier, um die Angelegenheiten meiner verstorbenen Mutter zu regeln.«
»Da haben Sie sich aber einen ungünstigen Zeitpunkt für Ihre Regelungen ausgesucht!«
Ich verkniff mir die Bemerkung, die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt könne er getrost mir überlassen, und sagte stattdessen: »Sie haben ganz recht. Aber ich habe erst gestern Abend von der Existenz dieses Schließfachs erfahren und der Notar und ich hoffen, dass dort die fehlenden Unterlagen für die Abwicklung des Nachlasses zu finden sind. Ich brauche diese Unterlagen wirklich dringend.« Ich versuchte treuherzig und hilfsbedürftig dreinzuschauen, was mir dieses eine Mal zu gelingen schien, denn er seufzte: »Also schön. Dann kommen S’ halt mit.«
Wir schlüpften unter der halb heruntergelassenen Trennwand durch, er schaltete das Licht wieder ein und bedeutete mir durch ein Handzeichen, ihm zu folgen. Vor einer Wand mit Schließfächern machte er halt und drehte sich um. Ich zog den Schlüssel aus der Tasche, fand sogleich das Fach mit der Nummer 43. Der Schlüssel passte. Ich öffnete das Türchen. In dem Fach lag ein in Packpapier eingeschlagenes Päckchen.
Anfang November wurden 300 Trakehner in den Stallungen untergebracht – sie stammten von einem S S-Gestüt im besetzten Polen – und wenig später kamen 33 Norwegerkinder nach Hohehorst. In einer vom Führer befohlenen Nacht- und Nebelaktion waren diese Kinder – Sprösslinge von Wehrmachtssoldaten und Norwegerinnen, die in norwegischen Lebensborn-Heimen zur Welt gekommen waren – »heim ins Reich« gebracht worden. Noch heute sehe ich sie vor mir, mit den Kinderschwestern Olga und Anneliese (die übrigens auch aus Ostpreußen stammte), in Reih und Glied zum Spazierengehen aufgestellt, wie eine putzige Gesellschaft aus dem Zwergenland, mit ihren Mäntelchen und den hellblonden Haarschöpfen, die unter den Mützchen hervorlugten.
Die allerletzten Blätter fielen und bald kam der erste Schnee. Sartorius sprach nicht mehr mit mir, es war, als hätte es die Szenen mit ihm nie gegeben, als wären die Worte niemals ausgesprochen worden, als hätte ich die Berührung seiner Finger auf meinen Lippen niemals gespürt. Was genau sich zwischen Hanna und ihm abspielte, ob sich noch etwas abspielte, wusste ich nicht. Einmal sagte sie: »Er weiß nun Bescheid. Und du kannst ganz ruhig sein.«
Der menschliche Geist ist ein Gewohnheitstier, das schnell vergisst und geformt wird durch näherliegende Begebenheiten, die die weiter zurückliegenden beiseiteschieben. Und als Sartorius nach zwei und auch nach drei Wochen keinen weiteren Annäherungsversuch unternommen hatte und auch sonst
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