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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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geschehen. Es hatte Typhusepidemien in anderen Heimen gegeben, auch Keuchhusten war in manchen Häusern ausgebrochen. Doch in Hannas Fall war kein Herd auszumachen, an dem sie sich hätte infizieren können. Von den Norwegerkindern hatte keines Typhus, auch bei den im Nebengebäude einquartierten Flüchtlingsfamilien gab es keinen Fall.
    Was dann kam, war der schlimmste Albtraum meines Lebens und noch heute ist es mir unerträglich, darüber zu sprechen, überhaupt daran zu denken. Ich kann und mag nicht schreiben, was in diesen Wochen in mir vorging, und es ändert auch nichts. Der Tod ist die einzige Gewissheit im Leben, die man nicht durch Meinungen oder Einschätzungen relativieren kann. Sie starben im Abstand von zwei Tagen. Erst Hanna, dann Paulchen, mein liebes kleines Paulchen, mein Augenstern, mein über alles geliebtes Kind.
    Vielleicht habe ich diese Zeit nur deshalb überstanden, weil ich dann selbst krank wurde. Und vielleicht geschah das, was auf meine Krankheit folgte, nur deshalb, weil ich in meinen Fieberfantasien davon träumte. Um ein Haar wäre auch ich gestorben, doch sosehr ich mich auch danach sehnte, ich sollte wieder gesund werden. Der Fluch der Genesung kam über mich und brachte mich ins Leben zurück.
     
    Einige Wochen später war die Welt um mich herum in Auflösung begriffen. Wie begriffsstutzige Schauspieler, die nicht merkten, dass ihr Stück schon lange zu Ende war, versahen wir in Hohehorst noch immer unseren »Dienst«. Wie im Traum füllte ich noch immer Formulare aus, heftete Blätter in Ordner, tippte Berichte, die während meiner Krankheit liegen geblieben waren. Was hätte ich auch sonst tun sollen?
    In den Nächten schlief ich nicht mehr. Ich lag in meinem Zimmer, diesem Totenhaus meiner Gedanken, bei geöffnetem Fenster und hörte die Trakehner manchmal leise wiehern. Das Einzige, wasmich in diesen Nächten, den schwärzesten, am Leben erhielt, war der Gedanke an den Tod. Mit einer großen Klarheit, wie ich sie selten verspürt hatte, sann ich über die verschiedensten Selbsttötungsmethoden nach. Im Geiste fuhr ich auf den See hinaus, mit um den Leib geschnürten Gewichten, und ließ mich über Bord gleiten, versank im eisigen Wasser. Ich spielte mit dem Gedanken an Schlaftabletten oder Gift, doch Oberschwester Berta trug den Schlüssel zum Arzneimittelschrank stets bei sich. Blieb noch die Möglichkeit, mir aus der Natur selbst Gift zu besorgen. Ich kannte unten am See eine Stelle, an der Giftwasserschierling wuchs. Doch was wäre, wenn ich nicht genug nähme? Wenn ich stundenlang, in Krämpfen liegend, auf den Tod wartete? Ich war zu feige. Das war der einzige Grund, warum ich noch lebte. Ich war zu feige, um meinem Leben selbst ein Ende zu bereiten.
     
    Der Befehl aus München kam vor Ostern. In Anbetracht der Tatsache, dass fremde Truppen ins Land gelangen könnten, sei es dringend erforderlich, sofort sämtliche die Vorgänge in Heim Friesland betreffende Unterlagen zu verpacken und an geeigneten Stellen zu vergraben. Äußerste Eile sei geboten.
    Es war, als hätte eine unsichtbare Granate eingeschlagen und die Überlebenden in Aufruhr versetzt. Ein paar Zwangsarbeiter brachten Kisten in die Büros und nun ging es ans Einpacken. Wir packten den ganzen Tag. Papiere, Standesamtsbücher, Karteien von den Kindern, Reichsführerfragebögen, in denen festgelegt wurde, ob die Frauen den Ausleseanforderungen der SS entsprachen – sie wurden von der Oberschwester oder vom Heimleiter ausgefüllt und unterlagen der absoluten Geheimhaltung. Ich wusste, dass diese Bögen, einmal komplettiert, sonst direkt an Himmler persönlich gesandt wurden.
    Ordner und Hefter mit Namen von Frauen und Kindern wurden von mir in eine Kiste gepackt, und da war ja auch mein »Vorgang« und dort die Mappe von Hanna und ihrer Kleinen. Ich stopfte alles in die Kiste, wie blind, dachte nichts, wollte nichts denken. Und irgendwann hielt ich Paulchens Unterlagen in den Händen.Ich sank auf meinen Stuhl, die Mappe auf dem Schoß, und konnte mich nicht rühren. Was tat ich hier eigentlich, was sollte das alles?
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, nur dass plötzlich Sartorius auf der Schwelle erschien, einen Packen Papiere im Arm. Ich zuckte zusammen, legte möglichst unauffällig die Mappe weg und schob ein paar Formulare darüber.
    »Was sitzen Sie da herum? Los, weitermachen! Die hier müssen auch noch mit!«
    Er knallte mir das Paket auf den Tisch und sah mir dabei zu, wie ich die Sachen

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