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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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schütteln, zog sie dann aus und schlich durch den Keller, die Nebentreppe hoch, bis unters Dach, wo ich schon im Treppenhaus die Ohren spitzte, immer in der Erwartung, das aufebbende Geschrei eines Kindes zu hören, das gerade eine Schreipause eingelegt hatte und nun mit vollen Lungen von Neuem ansetzte. Doch nichts. Leise drückte ich die Klinke herunter, leise drückte ich die Tür auf. Da lag sie, in seligem Schlummer, das kleine Gesicht zur Seite gedreht, die Ärmchen links und rechts neben dem Kopf. Vor Erleichterung ließ ich mich auch aufs Bett sinken. Eine Weile lang kauerte ich dort auf der Bettkante und betrachtete sie. Das Rosenknospengesichtchen, die kleinen Sternenhände. Und die ganze Zeit dachte ich an Paul, mein kleines Kerlchen, das nicht mehr war, mein Junge, der nicht älter als ein dreiviertel Jahr hatte werden dürfen.
     
    Es war nach Mitternacht, als sie aufwachte, mit langsamen Bewegungen, wie ein Käfer, der sich im Sonnenschein räkelt. Erst als sie zu schmatzen begann und durch ein erstes »Mäh« erkennen ließ, dass sie nun richtig wach werden würde, fiel mir ein, dass ich ja gar nichts zu essen für sie dahatte. Ich nahm sie hoch, wickelte sie in ihr Deckchen und machte mich auf den Weg ins Kinderzimmer. Schwester Resis Schicht war inzwischen beendet und die schnippische Oda saß im Schwesternzimmer nebenan. Sie sah überrascht auf, als ich kam.
    »Lilli ist aufgewacht und hat Hunger«, sagte ich.
    »So, na dann wollen wir mal Abhilfe schaffen. Ich wollte ohnehin gerade die nächste Ladung zubereiten.« Sie stand auf und ich sah ihr zu, wie sie mit den Fläschchen hantierte und einen flüssigen Brei aus Ziegenmilch mit etwas Haferschleim zubereitete. Als aus dem Zimmer nebenan ein Weinen drang, bedankte ich mich undsagte: »Wenn ich noch mehr brauche, kann ich’s auch selber machen. Es ist ja im Moment alles ein bisschen schwierig.«
    »Ja«, sagte sie, nun kein bisschen schnippisch. »Es geht wohl auf das Ende zu.«
    »Lassen Sie das bloß nicht Frau Berta hören.«
    »Ach die«, sagte Oda. »Die ist doch auf beiden Augen blind. Wer soll uns denn noch retten? Die Alliierten sind doch schon so gut wie hier.« Sie schnaubte verächtlich und ich wusste nicht, ob sich ihre Verächtlichkeit auf Berta oder die generelle Ausweglosigkeit bezog. Das Schreien aus dem Nebenraum schwoll an und schon auf der Schwelle sagte sie: »Das Beste ist doch, man macht sich aus dem Staub, lieber heut als morgen. Was glauben Sie, wird mit uns passieren, wenn die herauskriegen, dass wir ein Laden von der SS sind. Und dass wir Norwegerkinder versteckt halten. Und dass wir ihre Namen verändert haben, damit niemand weiß, wer sie sind?«
    Ich musste sie angesehen haben wie eine Erscheinung, denn sie fuhr mich an: »Ja, wussten Sie das denn nicht? Sie sind doch in der Verwaltung!«
    »Nein«, stammelte ich, »nein, das wusste ich nicht.«
    Sie ging ins Kinderzimmer, nahm den Schreihals hoch und drehte sich zu mir um. Sie schien zu überlegen, ob es einen Grund gab für meine Begriffsstutzigkeit oder ob ich einfach nur dumm war. Schließlich seufzte sie. Ihr Blick hatte sich verändert, als sie sagte: »Es tut mir leid, ich habe einen Augenblick lang vergessen, dass Sie in den letzten Wochen sicher an   … anderes gedacht haben.«
     
    Als ich sah, wie Schwester Oda beruhigend auf den Säugling in ihrem Arm einsprach, verabschiedete ich mich, schloss die Tür zur Breiküche und begann in Windeseile und so geräuschlos wie möglich, mehrere Fläschchen mit dem Breigemisch zu füllen. Dann steckte ich zwei Tüten fein gemahlenen Hafer ein und eine Flasche Ziegenmilch. Wenn ich meinen eigenen Milchfluss nicht wieder in Gang bekäme, hätte ich immerhin für die ersten zwei Tage Nahrung für sie. So leise ich konnte, schlich ich hinaus, zog die Türzum Gang hinter mir zu und kehrte in mein Zimmer zurück. Die einzige Schwierigkeit, die ich jetzt noch zu überwinden hatte, war die Beschaffung der Dokumente. Ohne die Papiere konnte ich nicht fort. Ich musste also noch einmal hinaus, dorthin, wo sie die Kisten vergraben hatten.
     
    Ich wartete, bis Lilli wieder eingeschlafen war. Dann schlich ich mich erneut aus dem Haus. Dunkel und verlassen lag der Park in diesen schwärzesten Stunden der Nacht zum Ostermontag des Jahres 1945.   Als ich sicher war, dass nichts sich regte, begann ich von Neuem zu graben, diesmal ein Stück weiter links von der Stelle, an der ich vor ein paar Stunden gesucht hatte. Wie schon das

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