Herbstvergessene
nichts geschah, begann das Ganze zu verblassen und ich fragte mich sogar, ob ich mich nicht getäuscht hatte. Auch unser Plan, uns vor Sartorius in irgendeiner Form zu schützen oder abzusichern, erschien uns mittlerweileüberspannt, und so hatten Hanna und ich ihn nicht weiterverfolgt. Vielleicht war alles ein großes Missverständnis gewesen.
Noch heute denke ich mit Unglauben an mich, an uns alle, wie wir es in diesen letzten Monaten vor Kriegsende schafften, uns dort, auf unserer Insel der Sorglosen, in unserem Schlaraffenland einzuigeln. Was hatten wir geglaubt? Dass um uns herum die Welt in Flammen aufgehen würde und unsere Insel sich über Raum und Zeit erheben würde und uns wie ein fliegender Teppich unversehrt in ein anderes, neues, besseres Leben tragen würde, in eine Zukunft, die Arkadien hieß?
Von Anneliese Willunat erfuhr ich, dass Gauleiter Koch für Ostpreußen ein Fluchtverbot erlassen hatte. Dass alle dort ausharren mussten, bis zu dem Tag, an dem … ja, was? An dem die Russen kämen? Was war mit Mutter, was mit Ingeborg? Und mit Leni?
Weihnachten kam und ging, das letzte Kriegsweihnachten, aber das wussten wir natürlich nicht. Dass eine Art Ende nahte, war uns allen klar, kaum jemand glaubte noch ernsthaft an den Endsieg. Mit dem neuen Jahr hielt der Winter richtig Einzug und die Pensionärinnen strickten, wieder einmal, Handschuhe und Socken für die Soldaten an der Front. Sartorius bekam ich kaum noch zu Gesicht. Wenn er sich im Hause aufhielt, dann nur zu dienstlichen Zwecken und oben in den Untersuchungsräumen. Einmal hörte ich, wie Oberschwester Berta sagte, er werde zunehmend in Bremen gebraucht. Und dann wurde Hanna krank.
Die Märzenbecher und Schneeglöckchen standen in voller Blüte, die Weidenkätzchen blühten prall und voller Zuversicht dem Frühling entgegen und die Vorfrühlingssonne wärmte unsere Gesichter, wenn wir in der Mittagspause im Park spazieren gingen, Hanna und ich mit unseren beiden Kleinen. Unter dem braunen Buchenlaub des Vorjahrs blitzten schon die ersten grünen Halme hervor und man spürte, dass der Frühling dem Winter bald den Garaus machen würde.
»Mich fröstelt’s«, sagte Hanna, als sie sich auf unsere Bank setzte,eingemummelt in ihren Wintermantel, mit Handschuhen und Mütze und einem dicken grauen Wollschal.
Ich selbst streifte den Mantel ab, hängte ihn über die Lehne und nahm Paulchen aus dem Wagen.
»Kriegst du vielleicht eine Erkältung?«
»Hm. Vielleicht. Ich fühl mich komisch.«
Ich betrachtete sie genauer. Sie war bleich, ihre Haut hatte einen fast bläulichen Schimmer, und obwohl ihr ganz offensichtlich kalt war, standen ihr winzige Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe. Jetzt fiel mir auch auf, dass ihre Augen ein wenig glänzten. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Manteltasche, tupfte ihr den Schweiß vom Gesicht und legte meine Hand auf ihre Stirn. Hanna glühte.
»Du hast Fieber.« Ich beugte mich vor, legte Paulchen in den Wagen zurück, fasste sie unter dem Arm und sagte: »Komm schon. Du musst ins Bett. Wir melden dich bei Bertus krank.«
Sie ließ sich hochziehen und trottete hinter mir her, sich abstützend am Kinderwagen, den sie vor sich herschob.
Seit Tagen hatte sie über Mattigkeit geklagt, über Kopfschmerzen und dass sie es morgens kaum aus dem Bett schaffe. Ich hatte mich gewundert, denn ich kannte sie nur als quirlige, energiegeladene Person, die seit ihrer Ankunft im Heim (von ihrer »Migräne« abgesehen) noch kein einziges Mal krank geworden war. Die Ereignisse der letzten Monate mussten sie doch mehr mitgenommen haben, als sie vor mir und vor sich selbst zugeben wollte.
Oberschwester Berta musterte Hanna aufmerksam und schickte sie dann zu Bett. Wir kamen überein, dass ich mich um sie kümmern würde – ihr die Mahlzeiten aufs Zimmer bringen würde und Tee und Medikamente. Da wir seit einiger Zeit wieder das Zimmer miteinander teilten – das Nebengebäude quoll inzwischen vor Flüchtlingen nur so über –, war das für mich auch nicht mit besonders viel Extraarbeit verbunden. Als Hannas Fieber allerdings nach einer Woche noch immer nicht gesunken war, begann ich mir aber ernstlich Sorgen zu machen. Berta kam und sah persönlich nach ihr. Noch am gleichen Abend wurde sie ins Krankenzimmerverlegt. Und dann wurde Paulchen krank. Eine Woche später hatte man bei beiden Typhus diagnostiziert.
Ich sehe das ungläubige Gesicht der Oberschwester noch vor mir, als sei das alles gestern
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