Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Umschlag, nahm den großen und riss ihn mit zitternden Fingern auf. Im ersten Moment verstand ich nicht. Immer wieder glitt mein Blick über dieselben Zeilen und Zeichen. Und dann stieß ich die Luft aus, die ich unwillkürlich angehalten hatte. Hier in meinen Händen hielt ich die Vaterschaftsanerkennung für das Kind Lilli Sternberg, das am 5.   Mai 1944 im »Heim Friesland«, Hohehorst, auf die Welt gekommen war. Der Vater des Kindes war Dr.   Heinrich Sartorius.

Mimikry

 
    In dem Moment lag alles klar vor mir. Nie zuvor und nie nachher fühlte ich eine Gewissheit wie die, die Schwester Elses Worte in mir auslöste. Ich beeilte mich, ins Kinderzimmer zu kommen. Bereits am Ende des Ganges hörte ich das verzweifelte Schreien von mehreren Kleinen, aber ein Stimmchen trat dabei besonders deutlich hervor, und noch bevor ich die Tür öffnete, wusste ich, dass es Lilli war.
    »Ach, Frollein, da sind Sie ja endlich! Die macht mir hier alle anderen ganz narrisch«, sagte Kinderschwester Resi statt einer Begrüßung und drückte mir Lilli in den Arm. Aus mehreren Bettchen drang Schreien, auch hier löste sich also die wohlgeordnete Heimwelt gerade auf. Die zweite Schwester, die eigentlich auch hier hätte sein müssen, war wohl noch unten, in Hannas ehemaligem Büro, und packte.
    »Ich kümmere mich um sie«, sagte ich, bevor ich das Zimmer verließ. »Am besten, ich behalte sie die Nacht über bei mir.«
    Schwester Resi warf mir einen Blick zu, in dem sich Qual und Dankbarkeit mischten, und nahm den nächsten schreienden Zwerg aus seinem Wagen.
     
    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man in Extremsituationen besonders klar sieht. In Sekundenschnelle erfasst man die Lage und ein Plan, für den man sonst Wochen gebraucht hätte, liegt vor einem ausgebreitet, in aller Übersichtlichkeit, in sämtlichen Einzelschritten.
    Es dauerte nicht lange, die kleine Lilli zu beruhigen. Vielleicht war sie aber auch nur vor Erschöpfung eingeschlafen. Natürlich wäre es ein Risiko, sie hier alleine schlafen zu lassen, aber ichmusste es tun. Ich musste in den Park laufen und die Kisten finden, die sie vergraben hatten. Die Kisten, in denen Lillis und Hannas Urkunden und Ausweispapiere waren.
     
    Ich brauchte eine Weile, bis ich im Schein der Taschenlampe die Stelle fand, an der ich sie hatte graben sehen. Es roch nach frisch aufgeworfener Erde und im Lichtstrahl der Lampe erkannte ich Fußspuren im weichen Untergrund. Einen Moment lang überkamen mich Zweifel. Was, wenn ich die Kiste vergeblich suchte? Was, wenn Lilli inzwischen aufwachte und das halbe Haus zusammenschrie? Was, wenn sie vom Bett herunterfiele? Was, wenn ich erwischt würde?
    Durch all diese angstvollen Fragen hindurch versuchte ich mich zu orientieren. Wo hatte Sartorius gestanden, als die Kiste versenkt wurde, war es hier oder einen Meter weiter dort gewesen? Ich musste mich konzentrieren! Als ich glaubte, die Stelle identifiziert zu haben, griff ich nach dem Spaten und begann zu graben. Immer wieder stieß ich in die Erde, überlaut krachte und knirschte das harte Metall gegen Steine und Steinchen. Schließlich, es musste eine gute halbe Stunde vergangen sein, stieß ich auf etwas hohl Klingendes, Hartes. Das musste die Kiste sein. Teils mit dem Spaten, teils mit bloßen Händen scharrte ich die Erde beiseite, bis ich die ganze Kiste freigelegt hatte. Dann hielt ich inne und lauschte. Lauschte und sah in die absolute Dunkelheit um mich her. Ein leises Rascheln im Gebüsch ließ mich unsicher werden. Was, wenn mich jemand beobachtet hatte, die ganze Zeit schon, während ich hier grub, und derjenige nur darauf wartete, bis ich mich daranmachte, die Kiste zu öffnen? Ich stand noch eine Weile lang still, und als ich weiter nichts hörte, knipste ich die Taschenlampe wieder an und leuchtete auf die Kiste, in der Erwartung, Sartorius’ Kennzeichnung zu entdecken. Es war die falsche.
    Ich hätte laut aufschreien mögen vor Enttäuschung und Wut, doch was aus meiner Kehle drang, war nur ein klägliches Seufzen. Hastig scharrte ich die Erde wieder darauf. Ich konnte jetzt nicht weitergraben, ich musste zurück, zu lange hatte ich die Kleineschon allein gelassen. Den Spaten ließ ich, wo er war, und rannte zurück zum Haus, ging durch den Nebeneingang an der Westseite, den ich unversperrt gelassen hatte und der direkt in den Küchentrakt führte. Notdürftig klopfte ich die Erde von meinem Rock, stampfte ein paarmal auf, um die gröbsten Erdklumpen von den Stiefeln zu

Weitere Kostenlose Bücher