Herbstvergessene
nie bis nach Miami vorgedrungen. Und plötzlich, völlig unvermittelt, fiel mir eine Person ein, die ich bisher völlig unbeachtet gelassen hatte und die vielleicht viel mehr Grund gehabt hätte, Mutters Pläne zu fürchten: Sieglinde Sartorius, die Tochter beziehungsweise Schwester, die bald wieder nach Deutschland zurückgekehrtwar und die nie aufgehört hatte, nach ihrem Vater, dem Helden, zu suchen. Was hätte
sie
dazu gesagt, wenn das Andenken ihres Vaters – vor aller Welt und nach all diesen Jahren – in den Schmutz gezogen worden wäre?
Erna beugte sich vor und betrachtete das Päckchen. Nach einer Weile fragte sie: »Darf ich?«, und als ich nickte, griff sie danach und begann, das Packpapier aufzuschlagen. Sie blätterte durch die Versuchsberichte, flüchtig, so als wollte sie den Bildern keine Chance geben, sich in ihrem Kopf einzunisten.
»Die sehen mir aus wie ziemlich neue Kopien, findest du nicht auch?«
Ich betrachtete die Papiere näher und nickte.
»Ja. Stimmt. Das war mir gar nicht aufgefallen.«
»Es muss also irgendwo noch andere Exemplare geben. Auf jeden Fall sehen die hier nicht wie Originalunterlagen aus.«
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sie die nie besessen.«
»Vielleicht.«
Erna legte die Blätter auf den Tisch zurück und nahm nun das schwarze Buch und schlug es auf. Plötzlich sagte sie: »Hast du gesehen, dass da Seiten fehlen?«
Verblüfft sah ich von Erna zu dem Buch, das sie mir hinhielt. Tatsächlich. Jemand hatte die letzten Seiten herausgerissen.
»Da fehlen am Ende mindestens zwanzig Seiten, wenn nicht noch mehr.«
Ich nahm ihr das Manuskript aus der Hand und blätterte. Ging zurück an den Anfang und las noch einmal das Inhaltsverzeichnis durch, das Großmutter angelegt hatte. Das Buch bestand aus einem Prolog, mehreren Teilen und einem Epilog. Jetzt erst bemerkte ich, dass der Epilog fehlte.
Erschöpft von Worten und Gedanken schleppte ich mich eine halbe Stunde später die Treppen zu Mutters Wohnung hinauf. Der Gedanke, Erna um Hilfe zu bitten bei meinem Vorhaben, Roman zu ›überführen‹, erschien mir jetzt absurd. Überhauptwar der ganze Verdacht an den Haaren herbeigezogen. Der Schock über die Entdeckung dieses alten Familiengeheimnisses hatte meine Fantasie mit mir durchgehen lassen. Und sicher war da immer noch der Wunsch nach Entlastung, ja nach Freispruch von einer Schuld, die ich mir selbst zuschrieb. Zu welchen Auswüchsen meine Gedanken fähig waren: Alles war besser, als mich der Verantwortung zu stellen, sogar ein Mord. Keuchend kam ich oben an. Als ich die Tür aufdrückte, begrüßte mich das Lämpchen des Anrufbeantworters, das grün in der Dunkelheit blinkte. Rasch machte ich Licht und drückte die Abhörtaste.
»Ja, Prohacek hier … äh … Ich bin jetzt zu Hause, rufen Sie mich bitte an … äh … es ist zwanzig vor sechs. Meine Nummer haben Sie ja, aber …«, er hustete, »… hier gebe ich Sie Ihnen zur Sicherheit noch mal …«
Ich nahm den Hörer auf, tippte die Nummer ein. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln. Geradeso, als habe er neben dem Telefon gesessen und gewartet.
»Prohacek.«
»Maja Sternberg hier.«
»Gut, dass Sie anrufen.« Er klang erleichtert.
»Ich wollte mich entschuldigen, ich habe unseren Termin leider …«
»Das ist schon in Ordnung«, schnitt er mir das Wort ab. »Wann haben Sie Zeit?«
»Morgen um zehn?«
»Das passt mir.«
»Und wo?«
»Lassen Sie mich nachdenken. Wie wär’s vor dem Belvedere?«
»Gut. Bis morgen also.«
Auf dem Weg zum Belvedere grübelte ich unablässig über Roman Sartorius nach. In meiner Brust kämpften zwei völlig gegensätzliche Gefühle miteinander, und wenn ich schon glaubte,mich in meiner Wut auf ihn häuslich eingerichtet zu haben, dann blitzte das Bild seines Lächelns vor mir auf, das meinen ganzen Zorn in sich zusammenstürzen ließ, sodass nur noch die Sehnsucht nach ihm übrig blieb. Als ich auf den Eingang des Belvedere zuging, zwang ich mich, Roman wenigstens für den Moment zu vergessen und nur an das bevorstehende Gespräch zu denken.
Prohacek und ich trafen uns am Eingang des Belvedere. Schon von Weitem erkannte ich Prohaceks birnenförmige Gestalt. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und der bläuliche Dunst, der hin und wieder seinen Kopf umschwebte, verriet, dass er rauchte. Er trug eine schlecht sitzende Jacke und eine Hose, die etwas zu tief im Schritt saß. Erst im letzten Moment, als ich ihn schon fast
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