Herbstvergessene
nach einer Feuerbestattung berücksichtigt? Vielleicht hätte man unter ihren Fingernägeln … ich mochte nicht weiterdenken. Ich stieß mich von der Hausmauer ab, taumelte, rang mühsam um Gleichgewicht. Ein Mann ging vorüber, er sah mich forschend an, ein Komm-mir-nicht-zu-nahe-Blick, er hielt mich wohl für eine Obdachlose, die abgetaucht in ihre eigene alkoholkonservierte Welt durch die Straßen Wiens stolperte. Ich wandte den Blick ab.
Da schob sich ein anderer, neuer Gedanke vor alle anderen. Ich könnte doch etwas tun. Ich könnte versuchen … nein, das war zu verwegen, zu abwegig. Oder vielleicht doch nicht? Ich könnte Roman Sartorius in eine Falle locken. Ich könnte bluffen und ihn in die Enge treiben. Vielleicht würde er sich verraten, wenn er es tatsächlich getan hatte. Aber war das nicht absurd? Wahrscheinlich bildete ich mir alles bloß ein und Mutter war nur zu dem einen Zweck nach Miami geflogen: um ihren Halbbruder kennenzulernen. Aber warum hatte er mir das verschwiegen? Aus Angst vor der Schande? Immerhin war auch ich – wie es aussah – mit Heinrich Sartorius verwandt. Doch wenn ich nun wirklich versuchen würde, ihn herauszufordern? Dann aber bräuchte ich einen Helfer, eine zweite Person, mit der ich mich absprechen konnte und die, sollte etwas schiefgehen, rechtzeitig eingreifen konnte. Und da kannte ich im Moment nur eine.
Als Erna Buchholtz die Haustür öffnete, bot sich ihr einjämmerlicher Anblick – ich musste aussehen wie ein zerzauster Straßenköter. Jedenfalls weiteten sich ihre Augen, als sie mich erblickte.
»Kind! Ja, um Himmels willen …«
Sie fasste mich am Arm und zog mich herein. Dann knöpfte sie mir den nassen Mantel auf und hängte ihn auf einen Bügel. Einen Augenblick lang stand sie bloß da, in ihrem dunkelblau-grau gestreiften Morgenmantel und mit bloßen, knochigen Fersen, die aus altmodischen Filzpantoffeln herausragten. Dann fragte sie: »Was halten Sie denn da umklammert? Wollen Sie mir etwas zeigen? Die nassen Botten da stellen wir am besten zum Trocknen auf.«
Als ich nicht reagierte, zog sie mir die Stiefel, die Strümpfe aus, holte Zeitungspapier und stellte sie im Gang vor die Heizung. »Irgendwann holen Sie sich mit diesen Dingern noch den Tod! Die sind doch nichts für den Winter.« Missbilligend sah sie auf meine dünnen Nylonstrümpfe und hängte sie zwischen die Rippen des Heizkörpers. Sie verschwand im Nebenzimmer und kehrte mit einem Paar dicker grauer Wollsocken zurück, die sie mir reichte und die ich wie in Trance anzog. Im Wohnzimmer drückte sie mich auf die Couch, legte eine Decke über mich und steckte sie um mich herum fest. Dann hörte ich sie, den Rücken zu mir gewandt, am Büfett hantieren, Gläser klirrten, sie drehte sich zu mir um und reichte mir ein Glas. Es roch nach Likör (wie hätte sie auch von meiner Erfahrung in der letzten Nacht wissen sollen!). Sie rückte sich selbst einen der Biedermeierstühle heran und nickte mir aufmunternd zu. Dann sagte sie: »Das wird dich ein wenig wärmen. Und ich bin übrigens die Erna.« Sie hob ihr Glas und prostete mir zu.
Ich erwiderte ihr Lächeln matt. »Und ich bin Maja.«
Wir stießen an, und als ich den ersten Schluck nahm, dachte ich unwillkürlich an den Wein letzte Nacht, aber auch daran, dass erfahrene Trinker zur Überwindung von Alkoholverdruss das Weitertrinken empfehlen. Und so legte ich mein Päckchen auf den Tisch und leerte das Glas in einem Zug.Und während der Alkohol sich in mir ausbreitete und ich weiter meine Gedankenbauklötze hin und her schob, bemerkte ich Ernas schwarze Knopfaugen, die mich besorgt musterten. Sie schien auf eine Erklärung zu warten. Und dann fiel mir auch wieder ein, warum ich hier war. Ich musste versuchen, ruhig und besonnen zu berichten, es war wichtig, dass Erna mir glaubte, ich brauchte ihre Hilfe. Doch da platzte ich auch schon heraus: »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie meine Mutter umgekommen ist.«
Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich Ernas Augen sich weiten, sie schienen aus ihren Höhlen herauszutreten, ihr Blick veränderte sich, ich wusste nicht, ob vor Überraschung oder vor Schreck. Ihr Blick bohrte sich in meinen, und als sie nach einer Weile immer noch nichts sagte, auch nicht nachfragte, wertete ich dies als stumme Aufforderung weiterzusprechen.
»Ich … es ist eine lange Geschichte. Haben Sie … äh … hast du Zeit?«
Erna deutete auf ihre Pantoffeln. Sagte dann: »Ich wollte zwar eigentlich
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