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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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»ungemein praktisch« bezeichnet hätte; die sich auflösende Hochsteckfrisur und die Wimperntusche, die sicher schon wieder verschmiert war.
    »Die Krankheit hat sie sehr verändert.
Sie
hat sich verändert«, entgegnete er. Die Schlichtheit dieser Worte machte mich betroffen.
    »Das   … habe ich nicht gewusst.«
    »Ich weiß«, sagte er und wir nahmen unseren Gang wiederauf. Inzwischen waren wir bei den Hecken angelangt und bogen nach rechts ab.
    »Ich habe sie gefragt: Warum schreibst du ihr nicht einfach oder ruf sie doch an. Es ist doch alles nicht so kompliziert, wie du es machst. Wir haben doch immer die Wahl, neu anzufangen. Das schien sie zu berühren. Jedenfalls hat sie   …«
    »…   mich dann schließlich angerufen. Und dieses erste Mal nach all den Jahren war dann deckungsgleich mit dem allerletzten Mal im Leben.« Irgendetwas schnürte mir plötzlich die Kehle zu, ich konnte nicht mehr weitersprechen, mir war elend. Ich beschleunigte meine Schritte, atmete ein und wieder aus, kämpfte mit den Tränen.
    »Kind   …«, begann Prohacek, doch dann ließ er mich vorausgehen und hielt sich im Hintergrund, bis ich mich wieder gefasst hatte. »Ich kann mir denken, wie das für Sie gewesen sein muss. Und das ist auch ein Grund   … einer der Gründe   … warum ich mit Ihnen sprechen wollte. Ihre Mutter   … nun, sie war eine komplizierte Persönlichkeit, eine starke Frau, die sich ihr Leben lang behaupten musste und dies auch tat.«
    »Und es auch wollte. Sie war ganz scharf darauf, sich zu behaupten! Sich und der ganzen Welt immer wieder zu beweisen, was für eine Powerfrau sie war. Mein Gott, wie mich dieses Wort ankotzt! Sie hat es genossen, überall mitzumischen. Und wissen Sie, was mich dabei noch mehr anwidert: Alles andere war immer wichtiger als ich. Sie hat mich ins Internat abgeschoben und in den Ferien war ich bei Oma. Und wenn es etwas zu regeln gab, dann war es Oma, die das erledigte. Ich hatte eine Mutter, der es schlicht zu langweilig war, sich um ein Kind zu kümmern. Da gab es ja nichts, wo sie glänzen konnte, keine Bühnen, auf denen sie sich präsentieren konnte. Wissen Sie, dass sie meinen Geburtstag meistens einfach
vergessen
hat! Als ich noch klein war, habe ich das nicht gemerkt. Dass Oma das Geschenk für sie besorgt hat, ohne dass sie sie darum gebeten hatte. Das habe ich erst später verstanden, als ich größer war. Und einmal hat sie an meinem Geburtstag angerufen,rein zufällig, an meinem sechzehnten Geburtstag, und ich habe mich so gefreut, bis ich merkte, dass sie nur Oma sprechen wollte und meinen Geburtstag einfach vergessen hatte, können Sie sich das vorstellen!« Ich hatte immer schneller, immer hastiger geredet, immer lauter polterten die Worte aus mir heraus. Und erst nach einer Weile merkte ich, dass meine Nase lief und mein Gesicht nass von Tränen war. Ich wischte sie fort und sagte schließlich leise: »Erst als ich ein hervorragendes Abitur in der Tasche hatte, hat sie begonnen, mich wahrzunehmen. Sie fing an, sich für mich zu interessieren, ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen. Und dieses plötzliche Interesse, ihr plötzliches Interesse, hat mir so
geschmeichelt
und ich war so
dankbar
dafür, ach   …« Die Stimme versagte mir und ein ersticktes Schluchzen drang aus meiner Kehle. Ich atmete ein paarmal tief durch und sagte schließlich: »…   dass ich ihr zuliebe, weil es
ihr
Wunsch war, auf die Dolmetscherschule ging. Und dabei wollte ich es doch gar nicht.«
    Ich verstummte endgültig und auch Prohacek schwieg. Der Wind fuhr durch die Buchenhecke und brachte die braunen Blätter zum Flüstern. Ich zog ein Taschentuch heraus, schnaubte kräftig und tupfte mir das Gesicht ab. Prohacek legte den Arm um mich, in einer väterlichen Geste, und sagte: »Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber sie hat all das gewusst. Sie hat ständig darüber nachgedacht und davon gesprochen. Wie sie überhaupt von bestimmten Themen, die ihre Familie betrafen, ständig gesprochen hatte in den letzten Wochen. Sie hat   … sie wollte sich mit Ihnen aussprechen, das war ihr dringendster Wunsch, sie wollte Sie um Verzeihung bitten. Davon sprach sie eigentlich ständig. Und eines Tages hatte ich sie so weit, dass sie bei Ihnen angerufen hat. Ihre Frau Mutter war ein harter Brocken, das kann ich Ihnen versichern.«
    »Wem sagen Sie das.«
    »Sie war eine stolze Frau. Aber die Krankheit hat sie verändert, zum Nachdenken gebracht.«
    »Ja, aber wenn es

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