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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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erreicht hatte, drehte er sich um. Er blinzelte und im ersten Moment glaubte ich, er hätte geweint. Aber es war wohl nur Rauch, den er abbekommen hatte. Ich streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen, er nahm sie, drückte sie fest und sah mich an, mit einem beinahe gerührten Ausdruck, mit dem ich nichts anzufangen wusste.
    »Sollen wir ein wenig spazieren gehen? Oder möchten Sie lieber etwas trinken, hier im Belvedere gibt’s ein angenehmes Café.«
    »Ein Spaziergang wäre schön.«
    Wir gingen, das Belvedere im Rücken, in den Park, der gerade neu angelegt wurde, sodass wir zwischen Säcken mit Erde, Schubkarren und winzigen Buchsbaumpflänzchen hindurchstapften. Ein leichter Wind wehte. Ich stopfte meinen Schal in den Rollkragen und klappte das Revers meines Mantels hoch.
    »Sie werden sich gewundert haben, dass ich Sie – nach den Monaten, die nun schon ins Land gegangen sind – so unvermittelt um ein Gespräch bitte und es noch dazu so dringend mache.«
    Ich lächelte, zuckte mit den Schultern: »Ein wenig schon, ehrlich gesagt.«
    »Der Grund für diese verspätete Kontaktaufnahme ist, dass ich lange mit mir gerungen habe, ob ich Sie überhaupt mit diesen Geschichten, die ja nunmehr alle Vergangenheit sind, belästigen soll.«
    »Sie machen es aber mächtig spannend. Aber nun heraus mit der Sprache: Was gibt es?«
    »Ihre Mutter   … Lilli und ich, wir wollten heiraten.«
    Ich war stehen geblieben und auch Prohacek hielt an und drehte sich zu mir um. Ich musterte ihn, sein schütteres graues Haar, die relativ unsportliche Figur.
    »Ja, das überrascht Sie jetzt sicher   … Was so eine Frau wie Ihre Mutter mit einem wie mir wollte, das habe ich mich ja selbst gefragt. Aber es war eben so.«
    Ertappt wandte ich den Blick ab und hoffte, dass meine Gedanken nicht auf der Stirn zu lesen waren.
    »Aber ich bitte Sie   … Es ist nur so, dass ich   …«
    »Ja, ja, ich weiß. Für die Jungen gehört man ab sechzig der Fraktion der Geschlechtslosen an. Und ab einem gewissen Alter erwartet man selbst auch nichts mehr, was über eine gute Tasse Kaffee und eine Zigarette hinausgeht. Es mag Ihnen närrisch vorkommen. Aber für die Liebe ist es eben nie zu spät.« Er lächelte und ich musterte ihn erneut. Sein Lächeln verwandelte sein Gesicht und ich bemerkte nun seine angenehmen, ja vielleicht attraktiven Gesichtszüge, seine klugen Augen, die Warmherzigkeit, die er ausstrahlte. Und ich ertappte mich selbst, wie eine Stimme in mir flüsterte: Zu gut für Mutter, den hat sie gar nicht verdient. Etwas lahm sagte ich: »Ich hatte nur keine Ahnung, das ist alles«, erwiderte sein freundliches Lächeln und setzte hinzu: »Ich hatte überhaupt wenig Ahnung von den Dingen, die meine Mutter bewegten, in den letzten Jahren. Wir haben uns nicht sehr gut verstanden, aber das hat sie Ihnen sicher alles erzählt.«
    »Ja, sie erzählte mir davon. Und von Ihnen«, sagte er sanft.
    »Bestimmt nichts Gutes.«
    »Sie täuschen sich.«
    »Ich habe mich sicher schon oft getäuscht. Aber nicht, was
dieses
Thema anbelangt. Meine Mutter hat – seit ich denken kann – meine Existenz, meine Wünsche, das, was ich im Leben wollte, ignoriert und mich verleugnet. Es ist noch gar nicht lange her, da durfte ich das wieder erfahren.«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
    »Ja, sie hat Frau Klopstock von meiner Karriere als Konferenzdolmetscherin vorgeschwärmt.«
    »Ach, diese alte Geschichte.«
    »Alte Geschichte! Na, Sie sind gut!« Ich war empört. »Was würden Sie denn sagen, wenn einer aus Ihnen etwas völlig anderes macht, als Sie sind.«
    Er grinste. »Die Lore Klopstock ist   … war eine neugierige Tratsche. Sie hat sich eine Menge zusammengereimt, ob Sie’s glauben oder nicht.«
    »Wie soll sie sich das denn zusammengereimt haben?«
    »Ach, was weiß ich, die hat alles Mögliche kolportiert   …«
    »So? Das glaube ich nicht. Ich war ihr peinlich, sie hat sich für mich geschämt. Sie brauchen mich doch nur einmal anzusehen.« Ich blieb stehen und breitete die Arme aus. »Und dann denken Sie an die Lilli, die Sie kannten. In ihren dunkelblauen Kostümchen, den Pumps, immer elegant, immer passend gekleidet, mit einem Hauch Chanel Nº 5 hinter die Ohren getupft, aber nie zu viel, Sie wissen schon, auf das rechte
Maaaß
kommt es an.« Beim letzten Satz imitierte ich die Stimme meiner Mutter. Er musterte mich lächelnd – die Schnürstiefel aus braunem Leder, die meine Mutter sicher mit einem verächtlichen Unterton als

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