Herbstvergessene
Gruß der Araberin zu erwidern.
Auf dem Bürgersteig vor dem Café zögerte ich. Wo sollte ich hin, zurück in die Wohnung? Oder direkt zum Flughafen und nach Hause fliegen? Oder sollte ich Wolf anrufen, damit er käme und ich ihm von dem Ungeheuerlichen berichten konnte? Doch dann fiel mir ein, dass zwischen Wolf und mir Funkstille herrschte, wie hatte ich das vergessen können? Und mich nun wieder bei ihm zu melden, nach dem, was gestern Nacht passiert war … oder vielleicht auch nicht. Es war alles so entsetzlich! Der gestrige Abend, mein Unwissen darüber, was
wirklich
geschehen war und nun die Wahrheit über Oma Charlotte, die mir den Boden unter den Füßen wegzog. Wenn ich die Geschichte nicht mit eigenen Augen gelesen hätte, ich hätte sie niemals geglaubt!
In dem Moment meldete sich ein anderer Gedanke – einer, der hier ganz und gar nicht passte. Hatte Roman mir nicht etwas von Zwangsadoptionen erzählt? Doch in dem Manuskript war davon nicht die Rede gewesen; im Gegenteil, Charlotte hatte offenbar erst im Nachhinein davon erfahren. Aber wie kam er dann darauf?
Ich hörte eine Stimme schräg hinter mir und fuhr herum, die Araberin war aus dem Café gekommen und hatte mich etwas gefragt, freundlich, die dunklen Augen besorgt, doch ich verstand sie nicht und ging einfach fort, stumm den Kopf schüttelnd. Ich schlug die entgegengesetzte Richtung ein, fort von Mutters Wohnung, ich brauchte Klarheit. Meine Gedanken waren ineinander verkeilt, ich musste sie irgendwie lösen. Ich musste nachdenken, musste das Gelesene sortieren, um es überhaupt in seiner ganzen Tragweite verstehen zu können.
Es hatte zu nieseln begonnen, feinste Tröpfchen prickelten auf meinem Gesicht und es fühlte sich an, als läge ein Netz darüber. Ich presste das Paket fest an mich. In einem Hauseingang machte ich halt und steckte es unter meinen Pullover.So ging ich weiter, kreuz und quer durch die Straßen, spürte die Kühle auf meinem Gesicht und für eine Weile war mein Kopf völlig leer, es gelang mir tatsächlich, an nichts anderes zu denken als an den Regen auf meiner Haut, an die Dunkelheit und daran, dass ich in Wien war, an einem Abend im Februar. Doch bald kehrten sie zurück, die Geister der Vergangenheit.
Die Erkenntnis, dass Heinrich Sartorius mein Großvater war, war verstörend genug. Und dass meine Großmutter nicht meine leibliche Verwandte war, konnte ich auch nur schwer fassen. Doch dass dieser Großvater, der plötzlich wie ein Geist aus der Vergangenheit aufgetaucht war, ein Mörder war, konnte ich kaum ertragen. Tränenblind stolperte ich in eine Seitenstraße und blieb, das Gesicht an eine Mauer gelehnt, stehen. Es konnte, es durfte nicht sein. Und doch war es so, hier stand es, in dem Buch, das ich unter meinen Fingern spürte. Er hatte Menschen gequält und ihren langsamen Tod billigend in Kauf genommen. Bei der Erinnerung an die Bilder spürte ich erneut Brechreiz. Heinrich Sartorius war ein böser Mensch gewesen. Wie viele von seinen Genen hatte ich abbekommen? Und Roman, was war mit ihm? Hatte er von alldem gewusst? Schon einmal hatte ich ihn der Lüge überführt und er hatte sich herausgeredet. Hatte er von dem Vorhaben einer Buchveröffentlichung gewusst? Hatte er sie gefürchtet? Hatte er vielleicht Mutter zu Hause aufgesucht, um sie davon abzubringen? Hatte er Angst gehabt um seinen guten Namen?
Andererseits war es bestimmt nicht einfach, ein Buch mit derlei Behauptungen zu veröffentlichen. Gab es da nicht Persönlichkeitsrechte, die gewahrt werden mussten? Mir schwirrte der Kopf. Und immer wieder kehrte ich zu der Frage zurück, warum Mutter sich so etwas hätte antun sollen – eine Veröffentlichung derart privater Angelegenheiten. Und dennoch: Hatte Roman von dem Manuskript und den Versuchsberichten gewusst? Hatte er vielleicht sogar versucht, die Unterlagen an sich zu bringen? Hatte er meine Mutter getötet?
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich alles um mich her drehte. Ich stützte mich an der Mauer ab. Das alles konnte doch nicht wahr sein! Aber selbst wenn es so gewesen sein sollte: Ich würde ihm nie etwas nachweisen können. Wenn es Spuren gegeben hatte, so waren diese längst verwischt. In den Flammen eines Krematoriums aufgegangen und von der Zeit und anderen, neueren Spuren überlagert. Dennoch, ich könnte es versuchen, ich könnte zur Polizei gehen, noch einmal, morgen, und alles vorlegen, was ich hatte. Wog das nicht schwer genug? Warum nur hatte ich Mutters Wunsch
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