Herbstvergessene
ihr wirklich so wichtig war, warum hat siesich denn umgebracht? Am Abend vor diesem Gespräch, auf das sie doch angeblich so lange gewartet hat.«
Prohacek erwiderte meinen Blick mit solch offenkundigem Mitgefühl, dass mir erneut die Tränen in die Augen traten. Leise sagte er: »Sie hatte so große Angst vor dem Krebs. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe.«
Ich nickte. Dann schluckte ich und blinzelte die Tränen weg. Eine Weile lang schwiegen wir beide, dann straffte ich die Schultern, ging langsam weiter und sagte: »Und dann gab es da ja auch noch diese andere Geschichte. Die Aufzeichnungen meiner Oma.«
»Ach ja. Das. Sie haben die Unterlagen also gesehen, das Buch, die Fotos?«
»Ja.«
Eine Pause entstand und wir schritten schweigend nebeneinander her. Plötzlich drehte ich mich zu ihm um und fragte: »Warum hat sie mir nie davon erzählt? Das verstehe ich einfach nicht.«
Prohacek räusperte sich. Dann sagte er: »Sie hatte das Buch nie gelesen. Sie hatte es wohl in ihrem Sekretär aufbewahrt, seit dem Tod Ihrer Großmutter vor einigen Jahren. Und erst als sie erfuhr, dass sie Krebs hatte …«
»Warum hat sie so lange gewartet?«
»Sie … ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sie einfach Angst?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nun, sie wusste, dass sie eine … nun … wenig fürsorgliche Mutter gewesen war. Vielleicht fürchtete sie sich vor unangenehmen Wahrheiten. Aber das ist nur eine Vermutung.«
»Allerdings war es dann eine völlig andere Wahrheit, die zum Vorschein kam.«
»Die ganze Angelegenheit war jedenfalls ein rechter Schock für sie. Sie hat es wohl auch erst eine ganze Weile mit sich alleine herumgetragen, bevor sie mir davon erzählte.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke und ich blieb abrupt stehen. »Haben Sie meine Mutter nach Hohehorst begleitet?«
Auch Prohacek machte halt. Mit leisem Erstaunen erwiderte er meinen Blick: »Da waren Sie auch schon? Donnerwetter, ich muss schon sagen …« Er grinste mich schief an. Dann fügte er hinzu: »Ja, wir sind zusammen dorthin gefahren.«
»Und wussten Sie auch, dass Mutter bei Sartorius in Miami war?«
»Davon und wie sie von dieser unfreundlichen Schwester abgekanzelt wurde.«
»Sie hat Sieglinde Sartorius kontaktiert?«
»Sie ist nicht über den Versuch hinausgelangt. Die Frau war am Telefon dermaßen abweisend … Und da hatte sie sich in den Kopf gesetzt, den Bruder sprechen zu müssen. Ich habe ihr davon abgeraten, ich meine, Wahrheitsfindung und Vergangenheitsbewältigung ist ja schön und gut, aber sie war mitten in einer Krebstherapie … Ich hatte einfach die Befürchtung, dass diese Aviophobie sich negativ auf ihr Befinden und auf den Therapieerfolg auswirken könnte. Wissen Sie, trotz aller Forschungen in der Onkologie weiß man vom Krebs und seinen Ursachen relativ wenig. Aber man vermutet, dass die Psyche eine starke Rolle bei seiner Entstehung spielt.«
»Aber sie hat nicht auf Sie gehört.«
»Natürlich nicht. Hat sie je auf irgendjemanden gehört?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte schwach.
»Na also. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als ihr ein starkes Sedativum zu geben und während des Flugs die ganze Zeit ihre Hand zu halten.«
»Sie waren mit in Florida?«
»Aber ja. Ich hätte sie niemals alleine fliegen lassen. Das war die Bedingung, und ich glaube, sie war auch ganz froh, mich dabeizuhaben.«
»Auch bei dem Gespräch mit Sartorius?«
»Ja.«
»Sie waren mit dabei?«
»Selbstverständlich. Warum erstaunt Sie das so?« Prohacek schien auf einmal aufzuhorchen.
Weil meine ganzen Verschwörungstheorien in sich zusammenstürzten, denn wenn Prohacek bei dem Gespräch dabei war, löste sich mein Verdacht, dass Roman Sartorius die schmutzige Vergangenheit seines Vaters durch die Beseitigung meiner Mutter im Dunkel verschwinden lassen wollte, in nichts auf. Denn dann hätte er Prohacek ja gleich mit um die Ecke bringen müssen.
Etwas schleppend setzte ich zu einer Erklärung an: »Ja, also, wissen Sie, ich … habe so viel über all das nachgegrübelt. Und je mehr ich grüble, desto weniger glaube ich, dass Mutter …« Ich verstummte und blickte ihn an. »Ich bin … hin- und hergerissen. Es gibt Momente, da beginne ich den Gedanken zu akzeptieren. Und dann wieder … fällt es mir doch schwer, das zu glauben.« Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Erleichtert deshalb, weil ich Roman mochte und mich (auch wenn ich es
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