Herbstvergessene
noch zum Opernball, aber in diesem Fall …« Sie lächelte schief und ich fand, dass sie sehr blass aussah. Erna schenkte sich selbst von dem Kirschlikör ein, füllte mein Glas ein zweites Mal, nahm einen Schluck, wie um sich zu stählen für das, was nun kommen würde. Ich tat es ihr nach, fühlte mich ein wenig gelöster und begann zu erzählen, der Reihe nach.
Nachdem ich geendet hatte, blieb es eine ganze Weile lang still im Raum. In der Ecke tickte eine Uhr mit dem Gesicht einer Katze, draußen fuhr ein Auto vorüber, auf dem Bürgersteig vor dem Haus rief ein junger Mann und ein anderer antwortete. Ich sah auf meine Finger, zupfte an der Nagelhaut herum und fühlte mich auf einmal unendlich leer. Ich blickte auf, suchte Ernas Blick. Sie schien darauf zu warten, dass ich noch irgendetwas sagte. Doch ich wusste nichts mehr und nach einem Blick auf das Päckchen vor uns auf dem Couchtisch fragte sie schließlich: »Dieser Mann – wo ist er jetzt?«
»Sartorius? Ich weiß es nicht. Er wollte wohl noch mal nach Deutschland. Vor seiner Rückkehr in die USA.«
»Und du bist dir sicher, dass deine Mutter ihm bei ihrem Besuch alles gesagt hat? Ich meine, dass sie ihn konfrontiert hat mit allem … dem Manuskript, den Fotos, der Vaterschaftsanerkennung …«
Ich dachte nach, wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Erna sagte: »Vielleicht wollte sie ihn einfach nur kennenlernen. Immerhin ist … war er ihr Halbbruder. Und sie hatte doch sonst außer dir niemanden … verwandtschaftlich, meine ich.«
Die letzte Bemerkung gab mir einen leisen Stich, ich wollte nicht an meine Unterlassungssünden erinnert werden.
»Meine Mutter litt unter extremer Flugangst. Das war auch der Grund, warum sie damals diese Stelle hier angenommen hat. Am liebsten wäre sie zum Dolmetschen von Ort zu Ort gejettet, aber dieses Handicap schränkte sie sehr ein. Am Anfang ihrer Karriere ist sie überall mit dem Zug hingefahren, aber selbst in Europa bleibt dabei buchstäblich zu viel Zeit auf der Strecke.«
»Vielleicht hatte sich ihre Flugangst ja inzwischen gebessert?«
Ich schnaubte. »Wohl kaum. Vor drei Jahren ist sie zur Beerdigung meiner Großmutter mit dem Zug angereist. Da hat sich nichts geändert. Ich bin fest davon überzeugt: Sie wäre niemals einfach so in die USA geflogen, nur um jemanden
kennenzulernen
. Da muss es schon einen triftigeren Grund gegeben haben. Und ich glaube, dass es irgendwie mit diesem Manuskript – und einer möglichen Veröffentlichung – zusammenhängt.«
»Du meinst, sie sah es als ihre Pflicht an, Sartorius persönlich mit den Tatsachen zu konfrontieren? Und ihn von ihren Plänen in Kenntnis zu setzen, dass sie eine Publikation plante?« Erna blickte skeptisch drein. »Aber hätte sie sich mit einer solchen Aktion nicht selbst sehr viel mehr geschadet? Dennimmerhin scheint aus diesen Aufzeichnungen klar hervorzugehen, dass ihre ›Mutter‹, wenn ich mal weiter so sagen darf, ein Kind entführt hatte! Und Sartorius war ja auch
ihr
Vater. Das muss man sich einmal vorstellen: Man erfährt, dass die Frau, die man für seine leibliche Mutter gehalten hat, ein Kind entführt hat. Und dass man selbst dieses Kind war. Und dass der Vater ein Mörder war. Das muss selbst für so jemanden wie deine Mutter schwer zu tragen gewesen sein. Obwohl die ja sonst mit allem zurechtkam.«
Etwas in Ernas Stimme ließ mich aufhorchen. Eine Spur von Bitterkeit und – war es Neid?
»Du hast sie nicht sonderlich gemocht, stimmt’s?«
»Ich«, hob Erna an, um gleich darauf ins Stocken zu geraten. Ich sah, wie sie rot wurde und hatte den Eindruck, sie hätte ihre Worte gerne ungesagt gemacht.
»Deine Mutter war jemand, mit dem man anregende Stunden verbringen konnte. Doch sie brauchte, tja, wie soll ich sagen, eine größere Bühne, um sich richtig wohlzufühlen. So war sie nun mal.«
Ich lauschte dem Klang von Ernas Stimme nach. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ja, genauso war es gewesen. Eine Weile lang war unsere Gesellschaft für sie ganz nett gewesen, aber dann hatte sie sich zu langweilen begonnen und mehr gebraucht, um sich wohlzufühlen. Romans Gesicht tauchte neben dem meiner Mutter auf. Wenn ich genauer darüber nachdachte, hinkte mein Mordverdacht ein wenig. Warum hätte er Mutter umbringen sollen? Wegen der geplanten Veröffentlichung von ein paar Unterlagen auf dem deutschen Buchmarkt? Warum hätte ihn das in Unruhe versetzen sollen? Die ganze Angelegenheit wäre doch
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