Herbstvergessene
auch nicht, warum ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich war so wütend auf dich.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte oder wollte, ich war auch zu müde, um mit einer bissigen Bemerkung zuzuschnappen, zu abgeschlafft, um irgendetwas zu fühlen. Wo war dieser Mann gewesen, in all den schwierigen Wochen? Und was empfand ich überhaupt noch für ihn, jetzt, in diesem Moment? Und um etwas zu sagen, irgendetwas, sagte ich: »Ich habe mit dem Rauchen aufgehört.«
»Oh … Das ist … gut.«
Pause.
»Na ja«, sagte ich »dann wende dich mal wieder deiner Arbeit und … Biene zu.« Natürlich hätte ich ihn fragen können, wie es ihm ginge. Mal ganz abgesehen davon, dass meine eigene Weste auch nicht mehr ganz weiß war. Dennoch: Er hatte sich zuerst aus dem Staub gemacht. Und was interessierte mich die Befindlichkeit eines Mannes, der beim erstbesten Seitenwind aus der Spur geriet?
»Willst du deine Sachen haben, rufst du deshalb an?«
»Ich … Ich finde, wir sollten reden. Bitte … Maja!«
Ein Gefühl tiefer Genugtuung stieg in mir auf und ich musste an den Begriff »Satisfaktion« denken. Er hatte einen schönen, satten Klang und traf meine Empfindung in diesem Moment ziemlich gut. Ich versuchte, nicht zu viel Häme in meine Stimme zu legen, als ich antwortete: »Ja, wirklich?«
Eine erneute Pause trat ein. Mir war klar, dass er nach Worten rang, die seinen Ärger übertünchen sollten. Schließlich seufzte er und sagte nur: »Nicht am Telefon.«
Ich schwieg.
»Wo bist du eigentlich?« Diese Handys halfen einem ganz hervorragend dabei, geheimnisvoll rüberzukommen.
»Spielt das eine Rolle?«
»Natürlich spielt das eine Rolle. Ich will dich …«
Er brach ab. Ruhiger sagte er: »Ich … wir sind jetzt über fünf Jahre zusammen und ich will mit dir reden, verdammt noch mal.«
»Waren.«
»Wie bitte?«
»Wir
waren
fünf Jahre zusammen.«
Nun schwiegen wir uns gegenseitig an.
»Maja, lass uns aufhören mit den Spielchen.«
»Wer ist hier nach Tölz abgetaucht? Kurz nachdem meine Mutter gestorben ist.«
Keine Antwort.
»Hat es in Tölz nicht so geklappt, wie du es dir vorgestellt hattest?«
»Ach, Maja, bitte. Lass uns wie vernünftige Menschen miteinander reden. Also, bist du in Wien?«
»Was für Menschen,
vernünftige
? Das klingt gut«, sagte ich mit künstlicher Munterkeit. »Vernünftige Menschen hauen nicht einfach ab nach Bad Hintertölz und steigen mit der erstbesten Biene ins Bett. Denn ich nehme doch an, dass du genau das getan hast, nicht wahr, mein Lieber? Und weißt du, was ich dir jetzt sage: Vernünftige Menschen lassen sich so was nicht gefallen. Und deshalb sollten wir dieses Gespräch jetzt ganz vernünftig beenden.«
Und dann legte ich einfach auf. Das Herz klopfte mir bis zum Hals und meine Worte klangen im Morgensonnenschein in mir nach; sie wirkten hohl, unwirklich und gestelzt. Ich blinzelte die Tränen weg. Durch einen Schleier sah ich die beiden Frauen mit ihren Kleinen auf dem Arm. Wieder fokussierte ich Charlotte Hanna Sternberg. Sie strahlte tatsächlich eine große Lebensfreude aus, wie Oma es in ihren Aufzeichnungen geschrieben hatte. Aber sie musste auch einen anderen Zug besessen haben: den absoluten Willen, es »nach oben« zu schaffen, um jeden Preis. Ich hielt das Bild ein Stück weit weg, holte ein Foto von Mutter, als sie in dem Alter gewesen sein musste, hielt es daneben und – richtig. Die Ähnlichkeit war überwältigend. Sie trat trotz unterschiedlicher Moden, trotz der zu dünnen Bögen gezupften und bemalten Augenbrauen der Älteren deutlich und krass hervor. Die Augen waren dieselben, puppenhaft und hell, ein wenig hervorstehend; dazu die Rundung ihrer Wangen, der herzförmige Kussmund. Und dieser Gesichtsausdruck wie aus Stahl. Sie hatten beide ein Lächeln, das dem Betrachter siegessicher entgegenstrahlte.
Ich ließ die Bilder in den Schoß sinken, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Seit der Husumer Episode hatte ich eine unendliche Müdigkeit verspürt, eine Antriebsschwäche, die mein ganzes Leben erfasst hatte. Ein Fachmann hätte vielleicht eine ausgewachsene Depression diagnostiziert. Aug in Aug mit Sieglinde Sartorius, meiner »Tante«, hatte ich plötzlichauf dem Absatz kehrtgemacht und war davongerannt, hatte mich in den Toyota gesetzt und war zum Flughafen gefahren. Diese Frau im Rollstuhl hatte garantiert nichts mit dem Tod meiner Mutter zu tun, da war ich mir sicher. Roman hatte mich angelogen,
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