Herbstvergessene
war, und dass Sieglinde Sartorius, wenn sie eine starke Frau wäre oder eine Waffe hätte, mich ohne Weiteres überwältigen könnte und meine Leiche dann vielleicht in der Husumer Au treiben würde. Aber dafür müsste sie mich erst mal erkennen. Dennoch klopfte mir das Herz gewaltig, als ich nun, da die Haustür sich aufdrücken ließ, nach dem Klingelknopf suchte. Ich holte tief Luft, klingelte, wartete. Und gerade als ich den Finger wieder auf den Knopf gelegt hatte, hörte ich ein Geräusch aus dem Inneren der Wohnung. Ich zückte mein Klemmbrett und meinen Kuli, hielt beides geschäftig vor der Brust und setzte einen, wie ich hoffte, routinierten Gesichtsausdruck auf. Die Tür ging auf, das Herz klopfte mir inzwischen zum Zerspringen und ich hob gerade an, mein zurechtgelegtes Sprüchlein aufzusagen, als die Worte mir auf der Zunge verwelkten. Vor mir stand die junge Frau von den Maltesern, die ich jetzt schon einige Male das Gebäude hatte betreten sehen. Sie trug einen weißen Kittel mit einem Namensschild,
Schwester Petra
, und hinter ihr, am Ende des Ganges, bog gerade eine Frau um die Ecke. Ihre Beine waren dünn und seltsam verkrümmt, doch ihre Arme, die die geneigten Räder eines Rollstuhls schoben, wirkten sehnigund kräftig. Die junge Frau drehte sich zu ihr um und sagte: »Besuch für Sie, Frau Sartorius.«
Eine Woche später saß ich in Mutters Wohnzimmer auf dem Boden. Das Morgenlicht lag in schrägen Streifen auf dem Tisch, brachte die gelben Übertöpfe der Pflanzen, die ich Erna gegeben hatte, zum Leuchten und zeigte, dass ich schon längst einmal die Fenster hätte putzen müssen. Ich saß auf dem Teppich, mit dem Rücken gegen das Sofa gelehnt, der Digitalwecker zeigte 8:54 Uhr. Ich betrachtete das Foto, das mir Anneliese Willunat geschickt hatte und das ich nach meiner Rückkehr vorgefunden hatte. In einem Brief schrieb sie, ich könne das Bild behalten, sie habe es abfotografieren lassen.
Zwei junge Frauen sitzen auf einer Treppe, beide halten ein Kind auf dem Schoß. Die beiden Frauen und das eine Kind sind blond, das andere hat dunkles Haar und dunkle Augen. Die eine Frau, das sieht man auch auf dem Schwarz-Weiß-Foto, ist perfekt geschminkt, ihre rasierten Augenbrauen bilden einen elegant gemalten Bogen, die Lippen sind dunkel, das Haar trägt sie zu exakten Wasserwellen gelegt. Sie ist hübsch, sieht aus wie aus einer Modezeitschrift »für die Dame«. Die andere ist ungeschminkt, sie trägt das Haar hochgesteckt zu einer Art Gretchenfrisur, ein paar einzelne Kringel haben sich gelöst und leuchten hell im Sonnenlicht. Ihre Augen sind groß und sehr hell, sie lächelt nicht, ihre Lippen sind voll und blass, sie ist eine Schönheit. Meine Oma war eine Schönheit. Und das Kind, das sie im Arm hält, ist so dunkel, wie sie hell ist.
Die Gesichter der beiden Kleinen, Kindergesichter mit winzigen Stupsnasen, wirken ratlos, der Blick des dunklen Säuglings ist woandershin gerichtet, ins Nichts, es sieht den Fotografen nicht, vielleicht kann es ihn noch gar nicht sehen, sind nicht alle Babys kurzsichtig? Es ist etwas älter und auf dem Foto glaubt man auch zu erkennen, dass es – im Gegensatz zu dem anderen – ein Junge ist. Mit kurzem Haarputz, erstaunlichdicht für so ein kleines Kind und samten wie ein Pelz, auf den die Sonne scheint. Das Mädchen trägt ein weißes Mützchen und in seinem Gesicht suche ich die Züge meiner Mutter. Der Mund vielleicht, bilde ich mir ein, und auch der Blick, der den Betrachter festnagelt, eisblau. Was natürlich Quatsch ist, das weiß ich, und dennoch. Ich halte das Bild näher heran und betrachte die Frau neben Oma, die echte Charlotte Hanna Sternberg, meine eigentliche Oma.
In diesem Moment begann mein Mobiltelefon zu bimmeln, ich zuckte zusammen und dachte sofort an Roman. Aber es war Wolf.
»Maja?« Seine Stimme klang vorsichtig. »Ich wollte hören, wie es dir ergangen ist.«
Ach, die Erfragung einer Auskunft, in die Vergangenheit gerichtet, dachte ich und konnte nicht verhindern, dass sich ein zynisches Lächeln auf meine Lippen stahl. Ich schwieg eine Weile, ließ ihn zappeln. Dann fragte ich: »Warum willst du das wissen?«
Er schnappte nach Luft. Schien eine empörte Salve abfeuern zu wollen. Doch ich fiel ihm ins Wort: »Ich soll dir also jetzt eine Art Zusammenfassung dessen liefern, was in all den Wochen seit Mutters Beerdigung geschehen ist? Habe ich das richtig verstanden?«
»Maja … Ich … es tut mir leid. Ich weiß
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