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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Überfluss wusste ich bis heute nicht, was
wirklich
zwischen uns vorgefallen war. Sprich: Hatten wir nun miteinander geschlafen oder nicht?
    Ich zwang mich erneut, in den Spiegel zu sehen. Täuschte ich mich oder traten meine Beckenknocken nicht deutlicher hervor als sonst, zog sich mein Bauch nicht stärker nach innen und sah man an meinem Brustkorb nicht schon die Rippen? Ich hatte eindeutig abgenommen, und das trotz meiner Fresserei. Frierend wandte ich mich ab, ging ins Bad und stieg unter die Dusche. War es nicht so, dass Leute, deren Eltern Krebs hatten, auch ein viel größeres Risiko trugen, selbst an Krebs zu erkranken? Und ich hatte wirklich kein besonders gesundes Leben geführt. Ich hatte immer munter geraucht, seit meinem sechzehnten Lebensjahr, weil damals die Coolen eben rauchten und ich natürlich zu ihnen gehörte. Oder partout gehören wollte. Ich hatte gerne und tief ins Glas geschaut, dazu noch jahrelang die Pille genommen. Nur echte Drogen hatte ich nie genommen, obwohl es im Internat reichlich Gelegenheit dazu gegeben hätte.
    Das Wasser war so heiß, dass es gerade noch auszuhalten war, und tat mir unendlich wohl. Ich stand so lange unter dem Strahl, bis meine Schultern brannten, dann wusch ich mir die Haare, seifte meinen ganzen Körper ein, und wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich mir auch das Gehirn gewaschen, mit einem scharfen Mittel, das die Verkrustungen löst, um dann mit reinem, klarem Verstand aus der Dusche zu treten. Was,wenn ich nun wirklich Krebs hatte? Plötzlich kam mir alles so verkehrt vor. Wozu suhlte ich mich in Verletzungen, wenn meine Tage vielleicht gezählt waren? Ich trat aus der Dusche, rubbelte mir das Haar trocken, schlüpfte in einen weißen Morgenmantel und trat auf die Terrasse.
    Es war der erste warme Tag seit Langem, immer war es kalt und regnerisch gewesen, doch heute lag ein vorfrühlingshaftes Strahlen in der Luft. Ich setzte mich auf ein Kissen, lehnte mich an die Hauswand und schloss die Augen, das Gesicht der Sonne zugewandt. Auf einmal kamen mir all meine Probleme irrelevant und nichtig vor. Wenn meine Tage gezählt wären, was würde ich tun? Die bewaldeten Hügel Liguriens erschienen auf meiner Netzhaut, die Luft und das Meer aus blauem Glas, glückliche Tage, die ich dort verbracht hatte. Ja, dachte ich. Ich würde nach Ligurien fahren und dort den Frühling genießen. Und wenn es mein letzter wäre. Aber vorher musste ich Gewissheit haben.
     
    Obwohl im Wartezimmer von Dr.   Prohaceks Praxis andere Leute saßen, wurde ich, kaum dass ich Platz genommen hatte, schon ins Behandlungszimmer gerufen, wo Dr.   Prohacek mir mit ausgestreckten Händen entgegenlächelte.
    »Liebes Kind«, sagte er. »Das ist aber eine Überraschung. Was führt Sie zu mir in die Praxis?
    »Ach«, sagte ich und schluckte. Leute, die mich »liebes Kind« nannten, hatten schon immer Rührung in mir erzeugt. Wahrscheinlich litt ich an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Ich fühlte einen Kloß im Hals und mir kamen fast die Tränen. Dann wusste ich auf einmal nicht weiter, weil ich fürchtete, mich als Hypochonder zu outen.
    »Fehlt Ihnen denn etwas? Oder hat Ihr Besuch eher private Gründe?«
    »Ich   … also   … seit einiger Zeit fühle ich mich schlecht, schwach irgendwie. Und das, obwohl ich esse. Viel esse. Aber dabei nehme ich ab.«
    Er nahm sich so viel Zeit für die Untersuchung, dass ich mit schlechtem Gewissen an die Leute im Wartezimmer dachte. Dann kam mir plötzlich ein Gedanke. War dieser Eifer nicht ein furchtbar schlechtes Zeichen? Vielleicht hatte er in mir schon im Park des Belvedere die Todkranke erkannt! Und warum starrte er so ernst auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts? Vielleicht las er dort das fortgeschrittene Stadium einer unheilbaren Krankheit so deutlich ab, dass es keinen Zweifel mehr geben konnte? Als er mir am Schluss auch noch höchstpersönlich Blut abnahm, ernst und schweigend, war ich drauf und dran, ihn zu fragen, wie lange ich seiner Meinung nach noch zu leben hatte. Doch die Angst vor der Antwort hielt mich davon ab.
    Ich verließ die Praxis verunsichert, sowohl von Prohaceks bedenklicher Miene als auch von seiner eindringlichen Versicherung, ich solle mir keine Sorgen machen und er werde die Blutproben noch heute – persönlich! – zum Labor bringen und mich dann so zeitnah wie möglich von den Ergebnissen verständigen. Noch schlimmer machte er es mit einer abschließenden Bemerkung, die tröstlich gemeint war, in mir aber

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