Herbstvergessene
erst recht die Alarmglocken zum Schrillen brachte: Im Moment bestehe noch gar kein Grund zur Beunruhigung und ich solle mich nicht vorzeitig verrückt machen.
In den nächsten beiden Tagen konnte ich mich auf nichts konzentrieren und schon gar keine Entscheidung über die Zukunft treffen. Bestimmt zehnmal hielt ich den Hörer in der Hand, um bei Prohacek anzufragen, ob die Ergebnisse bereits da seien, und ungefähr zwanzigmal war ich drauf und dran, Romans Nummer zu wählen, nur um seine Stimme zu hören. Doch jedes Mal überkam mich die Erinnerung an seine Lügen und an meinen unrühmlichen Auftritt in jener Nacht, daher knallte ich den Hörer am Ende immer wieder hastig auf. Was war ich doch für ein Feigling! Und dann fasste ich einen Entschluss: Falls ich tatsächlich die Diagnose Krebs erhielt, würdeich ihn anrufen! Denn dann hätte ich nichts mehr zu verlieren. Es gab allen Ernstes Momente, in denen meine Sehnsucht nach seinem klaren, aufmerksamen Blick und seiner warmen Stimme so groß war, dass ich mir diese Diagnose beinahe herbeiwünschte. Dazu schwelgte ich in tagträumerischen Szenen, in denen ich mich in attraktiver Schwäche auf einem ästhetisch anspruchsvollen Sterbebett liegen sah, mit Roman an meiner Seite, der Tränen über unsere verlorene Liebe vergoss und meine Hände streichelte, die so weiß und leicht wie Rosenblätter waren.
Am dritten Tag hielt ich es in der Wohnung nicht mehr aus und streifte durch die Straßen eines vorfrühlingshaften Wien. Ich fühlte mich noch schwächer als zuvor und war mir nun sicher, dass mir mein Körper bereits Antwort auf die Frage nach meiner Befindlichkeit gab. Ich setzte mich ins
Café Central
, bestellte eine Suppe – der Gedanke an Kaffee verursachte mir inzwischen Übelkeit – und saß dort herum, eine Zeitung vor mir auf dem Tisch, auf die ich mich nicht konzentrieren konnte. Das Einzige, was mich ein wenig von meinem inneren Elend abzulenken vermochte, war, die Leute zu beobachten und mir ihr Leben jenseits des Kaffeehauses vorzustellen. Wo würden sie hingehen, was arbeiteten sie und, das interessierte mich mehr als alles andere: Waren sie glücklich?
Nach einem Altwiener Suppentopf und zwei Scheiben Brot fühlte ich mich etwas besser und begann darüber nachzudenken, was ich mit dem Rest meiner Tage anfangen würde, falls die Diagnose im medizinischen Sinne »positiv« wäre. Gab es etwas, das ich immer hatte tun wollen, einen Ort, den ich immer hatte sehen wollen? Zumal Geld jetzt keine Rolle mehr spielte! Was taten Menschen, die wussten, sie hatten »noch ein halbes Jahr«? Doch sosehr ich auch grübelte, ich kam auf nichts. Ich hatte das getan, was ich schon immer hatte tun wollen, zumindest ab dem Tag, an dem ich dem Dolmetschen den Rücken gekehrt hatte. Ich hatte meine eigenen Interessen in den Mittelpunkt meines Lebens gestellt. Das hörte sich rechtbanal an und mochte für andere eine Selbstverständlichkeit sein, doch mich hatte es zahlreiche innere und äußere Kämpfe gekostet. Aber letztendlich hatte ich mich befreit von der Übermacht meiner Mutter, ich hatte die Dolmetscherei geschmissen und das gelernt, was ich hatte lernen wollen. Später war ich viel herumgereist, mit neugierigen Augen und immer auf der Suche nach Kuriositäten, die ich in meine Projekte einbauen konnte. Diese jahrelange Herumzieherei hatte dann in Wolfs und meiner Souterrainwohnung eine Art Erfüllung gefunden, zumindest für eine Zeit lang, dachte ich jetzt, nicht ohne Bitterkeit und Trauer. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem ich Wolf die Wohnung, die zu mieten war, zeigte und wie er mich ansah, als ich ihn ins nobelste Viertel der Stadt führte und vor der Gründerzeitvilla Halt machte. Ich weiß noch, dass er nichts sagte, sondern nur skeptisch guckte. Skeptisch, aber auch neugierig. Gemeinsam hatten wir die Wohnung dann in mühevoller, aber auch beglückender Kleinarbeit hergerichtet, bis sie genau so war, wie wir sie uns erträumt hatten.
Etwas entspannter, aber auch ein wenig trauriger lehnte ich mich in meinem Caféhausstuhl zurück. Nein, so armselig sah mein Leben gar nicht aus. Ich hatte ziemlich viel von dem, was ich hatte tun wollen, auch wirklich getan. Gut, das Thema Männer war bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich Wolf kennengelernt hatte, in meinem Leben eher nebensächlich gewesen. Wechselnde Partnerschaften in wechselnden Ländern, Tom in England, Joël, den ich auf einem Asientrip kennengelernt hatte und mit dem ich ein halbes
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