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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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und irgendwie auch Erna. Seit meiner Rückkehr aus Husum hatte ich sie gemieden, hatte immer wieder darüber nachgegrübelt, was Prohacek mir über sie erzählt hatte. Dann war da noch das Manuskript, und die Frage, ob es wirklich unvollständig war. Die vielen Zweifel! Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht mehr los, dass ich mich insgesamt verirrt hatte auf meiner krampfhaften Suche nach einer Wahrheit, die es vielleicht gar nicht gab: Ich war in ein Labyrinth geraten, war Pfaden gefolgt, die dann doch vor einer Mauer endeten. Ich hatte die Antwort, die ich gesucht hatte, nicht gefunden, dafür aber Dinge erfahren, die ich niemals hatte erfahren wollen. Wahrscheinlich wäre es das Beste, die ganze Sache nun endlich ruhen zu lassen und mich wieder auf mein eigenes Leben zu besinnen.
    Was war das alles doch kompliziert! Warum konnte ich nicht einfach den Frieden und die Freiheit, die es heute gab, genießen? Damals war Krieg gewesen, dennoch waren die Menschen offenbar besser zurechtgekommen als so mancher heute. Für mich galt das auch, trotz all der Annehmlichkeiten, die das Leben heute für mich bereithielt. Und jetzt hatte ich auch noch Geld! Das Rauchen hatte ich auch immer noch nicht wieder angefangen, es konnte also durchaus etwas werden mit mir und dem Leben. Andererseits litt ich immer noch unter den Entzugserscheinungen und wunderte mich über die lange Zeit, in der mein Körper sich immer weiter elend fühlte ohne die regelmäßige Nervengiftzufuhr. Und das ging gleich morgens los. Aber ich hatte gemerkt, dass es besser wurde, wenn ich gleich nach dem Aufwachen etwas aß. Eigentlich hätte ich längst fett sein müssen bei allem, was ich in mich hineinstopfte. Und doch hatte ich das Gefühl, eher abgenommen zu haben. Vielleicht war ich ja krank, schoss es mir plötzlichdurch den Kopf, vielleicht hatte ich Krebs wie Mutter? War man bei Krebs nicht schwach und elend, so wie ich mich immer wieder fühlte? Nannte man das nicht Auszehrung? Ich quälte mich hoch, schleppte mich, erschöpft, wie ich war, vor den deckenhohen Spiegel im Korridor. Der Strahler, der von der Decke auf mich gerichtet war, ließ dunkle Schatten unter den Augen erkennen, Schatten, die früher nicht da gewesen waren. Und die leichte Einbuchtung unterhalb der Wangenknochen, die kannte ich auch nicht. Ich musste tatsächlich abgenommen haben. Trotz all der Fressalien, die ich täglich – und nachts, wenn ich nicht schlafen konnte – in mich hineinstopfte. Noch einmal richtete ich meinen Blick in den Spiegel, tastete meine Züge ab, die Falten rechts und links des Mundes, die eindeutig schärfer geworden waren. Hatte ich tatsächlich Krebs? Jetzt wollte ich es ganz genau wissen und begann, mich auszuziehen. Ich riss mir das Sweatshirt über den Kopf, strampelte die Jogginghose ab, stellte mich unter das gnadenlose Deckenlicht, nackt, und betrachtete mich. So sah also eine Frau aus, deren Lebensgefährte von einem Tag auf den anderen davonrauschte. Eine Frau, deren krebskranke Mutter Selbstmord begangen hatte und die sonst niemanden auf der Welt hatte. Eine Frau, die sich in einen fünfzehn Jahre älteren Typen verliebte, der gleich alt aussah wie sie selbst und eigentlich viel zu perfekt war. Einer, mit dem sie es nie aufnehmen konnte, so seltsam und schräg, wie sie war. Und an den sie immer wieder dachte, trotz der Gewissheit, dass er sie aufs Übelste angelogen hatte. Und vor dem sie ziemlich rasch alle Hüllen hatte fallen lassen, obwohl sie es zum Kotzen fand, wie beliebig die Leute heute mit jedem und jeder ins Bett springen, gedankenlos, gleichgültig und ohne echte Gefühle. Als handle es sich um eine Turnübung, einen Akt der Alltäglichkeit, wie das Einkaufen, das Kochen, das Putzen. Und zu allem Überfluss hatte sie sich auch noch hemmungslos betrunken und sich dann die Seele aus dem Leib gekotzt. Vor diesem Mann, der so unglaublich starke Gefühle in ihr auslöste.
    Dreimal hatte Roman S. nach diesem Abend noch bei mir angerufen. Doch ich hatte seine Nummer auf dem Display erkannt, eine lange Nummer mit der Vorwahl 001, und so lange gewartet, bis die Mobilbox sich einschaltete. Zwei Nachrichten hatte er mir daraufgesprochen, er wolle mich sprechen und bitte um Rückruf. Doch ich hatte ihn nie zurückgerufen. Was hätte ich auch sagen sollen? »Warum hast du mir nicht erzählt, dass
dein
Vater
mein
Großvater war? Und – ach ja, by the way – ein
Mörder
!« Oder: »Danke, dass du meine Kotze aufgewischt hast!« Und zu allem

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