Herbstvergessene
Spieler!«, zischte sie. »Ich habe ihm mein Geld anvertraut, 50 000 Euro. Er hat gesagt, er würde es für mich anlegen. Und nun ist alles weg! Ich habe ihn dann zum Teufel geschickt und irgendwann hat er sich an deine Mutter rangemacht. Ich habe sie vor ihm gewarnt. Aber sie hat nicht auf mich gehört!«
»Was willst du denn damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass er bestimmt auch deine Mutter um Geld betrogen hat!«
»Aber ich habe doch ihre Kontoauszüge durchgesehen. Und da war nichts, was … Erna, du täuschst dich!«
In Ernas Augen erschien auf einmal ein so verletzter Ausdruck, dass mir das Mitleid den Hals eng werden ließ. Sie war so schmal und so zerbrechlich. Am liebsten hätte ich sie in die Arme genommen und gedrückt. Aber irgendetwas an ihrer Haltung, eine Art Starre ließ mich zögern. Und während ich noch darüber nachdachte, was ich sagen oder tun könnte, fuhr Erna mit seltsam heiserer Stimme fort: »Was glaubst du, warum deine Mutter den Arzt gewechselt hat, hm?
Ich
habe es ihr geraten, ich habe sie angefleht, sich von einem anderen Mediziner behandeln zu lassen.«
»Dr. Prohacek sagte mir, er habe ihr selbst einen Kollegen empfohlen …«
Erna lachte auf. Es war ein schrilles und hysterisches Lachen. Ihre Stimme überschlug sich, als sie sagte: »Hat er dir auch von dem
Gasunfall
erzählt? Maja, ich bitte dich, nimm dich in Acht.« Erna griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Ihre Finger waren feucht und kalt und mir wurde elend. Elend von all den Dingen, die ich gehört und gesehen hatte, von allen Lügen, die mir in den letzten Wochen von allen Seiten aufgetischtworden waren. Wem sollte, wem konnte ich noch glauben? Plötzlich hatte ich genug. Genug von bizarren Verdächtigungen und Schuldzuweisungen. Ich wollte nur noch weg, weg von allem.
Ich stand auf, der Stuhl fiel polternd um und ich ging taumelnd in Richtung Diele. Das Letzte, was ich hörte, bevor die Haustür krachend hinter mir zufiel, waren Ernas geflüsterte Worte: »Glaub ihm nicht. Du darfst ihm nicht glauben. Er lügt!«
Das Erwachen am nächsten Morgen war grauenhaft. Schwäche und Übelkeit hinderten mich daran, etwas anderes zu denken als »Bitte, lieber Gott, lass es mir wieder gut gehen.« Wie schon häufiger in letzter Zeit würgte ich eine trockene Scheibe Brot hinunter und trank Pfefferminztee dazu, weil mir das aus irgendeinem unerfindlichen Grund Linderung verschaffte. Wieder einmal stellte ich mir vor, dass der Krebs meinen Magen bereits so weit zerstört hatte, dass dieser sich selbst fraß, wenn er kein anderes Futter erhielt. Wie sehr sich mein eigenes Leben verändert hatte seit Mutters Tod. Ich hatte mich auf eine Spurensuche begeben, nach meiner eigenen familiären Identität, nach einem Schuldigen für den Tod meiner Mutter, und dabei hatte sich das ganze Gefüge meines Lebens aufgelöst. Die Basis – Wolf – war weggesackt und ich selbst war in den Armen eines Mannes gelandet, der mein leiblicher Verwandter war, mein Halbonkel! Ich hatte mit dem Rauchen aufgehört, hatte mein Geschäft vergessen, das mir jahrelang fast alles bedeutet hatte, hatte mit dem Gedanken an ein Kind gespielt, für das kein Vater mehr da war, hatte meine Sucht aufs Essen und Trinken verlagert. Und nun hatte ich das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Und um mich her gab es nichts als Lügen. Und vielleicht den Tod. Und heute würde mir Dr. Prohacek eröffnen, ob ich einen Schritt vorwärts tun musste. Oder ob ich umkehren durfte, einfach so, und mein Leben zurückbekäme.
Gegen Viertel vor elf machte ich mich auf den Weg zu Dr. Prohacek. Während ich durch die Straßen ging, überlegte ich kurz, ob ich nicht einfach wieder umkehren sollte. So viel hatte ich gehört, so groß war mittlerweile meine Verunsicherung. Ich wusste nun gar nicht mehr, wem und was ich glauben sollte. Natürlich könnte ich Prohacek auf Ernas Äußerungen ansprechen und einfach abwarten, was dann passierte. Doch bereits nach ein paar Schritten verließ mich dieser Wunsch wieder und zurück blieb nur meine Angst vor dem, was ich bald erfahren würde. Mit feuchtkalten Händen saß ich schließlich im Wartezimmer, das leer war, und wurde kurz darauf in den Behandlungsraum Nummer 2 geführt. Es war ein strahlender Tag im späten März und ich ging zum Fenster und blickte hinauf zu einem Himmel, der so blau war, dass es mich schwindeln machte. Das Fenster ging nach hinten hinaus, auf einen Garten mit Altwiener
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