Herbstvergessene
glauben, aber im Moment beneide ich mich selbst!«, sagte ich und legte das Handy beiseite.
Es war früher Nachmittag und die Sonne wärmte für die Jahreszeit schon ziemlich stark. Bevor ich zurück in meine Hügeleinsamkeit fuhr, beschloss ich, noch Obst, Malzjoghurt (eine bestimmte Sorte, den ich von früher her in bester Erinnerung hatte und den es nur in Italien gab), Gemüse und frischen Fisch und auch etwas Brot einzukaufen. Vielleicht auch Milch, sollte man als Schwangere nicht Milch trinken? Der kleine Laden, bei dem ich vor Jahren hier immer eingekauft hatte, war verschwunden. Während ich meinen Einkaufswagen durch die Gänge des
Coop
schob, rätselte ich ununterbrochen über den Fonds, den Mutter, wozu auch immer, eingerichtet hatte und zu dem außer ihr auch noch Prohacek Zugang hatte. Einigeder Namen, die hinter den Zahlen standen, waren mit gelbem Leuchtstift markiert. Die Namen kamen mir auf eine vage, sehr entfernte Art bekannt vor. Das glaubte ich zumindest, doch gleichzeitig wusste ich, dass ich mich in solchen Dingen schon öfter getäuscht hatte.
Wieder im Wagen bog ich schließlich auf die Nebenstrecke in Richtung Borgomaro ab. Flüchtig dachte ich daran, dass das Päckchen von Roman vielleicht schon zu Hause auf mich wartete. Der Verkehr wurde dünner, die Fahrbahn schmaler und ich lenkte den Wagen langsam in die unzähligen Kurven, die sich bis zur
Casa dei Glicini
hinzogen. Ich liebte diese Landschaft, ich liebte die Verlorenheit der Hügel ringsumher, die Einsamkeit, das dichte hellgrüne Kleid, das sie angelegt hatten wie einen Mantel. Im Sommer, dem heißen und endlosen ligurischen Sommer, boten sie Schutz vor der Sonne, und wenn man sich ein wenig auskannte auf den Pfaden, für deren Erhaltung niemand etwas zu tun schien, konnte man die bezauberndsten Wanderungen unternehmen und hier und da sogar einmal ein Wildschwein zu Gesicht bekommen.
Ich kam nach San Sebastiano und freute mich an den bunten Häusern, die rosarot und gelb, in der Nachmittagssonne leuchteten. Ich liebte die Farben Liguriens, mit seinem Himmel aus blauem Glas und dem Meer, das immer wieder einen anderen Ton auf der Palette wählte. Und während ich meinen Blick schweifen ließ, musste ich an Großmutter denken. Auch sie hatte diesen Landstrich sehr geliebt, hatte das Gesicht dieser Region in ihren Briefen immer wieder innig beschrieben und nie einen Zweifel daran gelassen, was es für sie bedeutete, hier sein zu können. Einen magischen Ort hatte sie die
Casa dei Glicini
genannt.
Einen Ort, an dem mein Leben neu begonnen hat.
Auch das hatte sie einmal gesagt, genau so, jetzt erinnerte ich mich deutlich. Und plötzlich wusste ich, woher die Namen auf der Liste stammten.
Er hatte alles detailliert aufgeschrieben und kommentiert, all diese Scheußlichkeiten in eine nüchterne und klinische Sprache gefasst. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft hatte er die langsamen, qualvollen Tode mitangesehen, jede noch so schwache Reaktion beobachtet, seinen kalten und hellwachen Blick auf seine Opfer gerichtet und gewartet. Er war keiner von denen gewesen, die alles tun, um Leben zu retten. Er hatte nicht versucht, ihnen Essen und Trinken einzuflößen, hatte ihnen keine beruhigenden Worte zugeflüstert. Er hatte seinen ärztlichen Eid gebrochen, ohne sich dessen je bewusst geworden zu sein. Dieser Mann, der mein Großvater war. Der Vater meiner Mutter, ihr Erzeuger. War er vielleicht verrückt gewesen? War etwas in ihm defekt gewesen – ein kleiner Bereich im Gehirn, in dem das Empfinden für Gut und Böse gesteuert wird, die Moral, der Teil, der dafür zuständig ist, dass wir Mitleid empfinden und helfen wollen? Oder war er einfach nur böse? Ist es das, das Böse, für das es viele und zugleich keine endgültige Erklärung gibt?
Ich hatte mich auf dieser Reise nicht damit belasten wollen, hatte nach Möglichkeit gar nicht daran denken wollen. Die Beschäftigung damit erschien mir müßig und sinnlos, denn das Nachdenken ändert nichts an dem, was geschehen ist. Doch die Namen hatten in mir gearbeitet und sich von selbst einen Weg an die Oberfläche gebahnt. All die Namen, die hinter den Geldbeträgen auf Mutters Liste standen, waren Namen von Menschen, die dem unmenschlichen Experimentierwahn meines Großvaters zum Opfer gefallen waren. Mutter hatte einen Fonds für die Hinterbliebenen eingerichtet, anscheinend unter der Mithilfe von Prohacek. Und jetzt war mir auch klar, welche Personen Mutter mithilfe des
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