Herbstvergessene
zur
Casa dei Glicini
legt in der Tat nur zurück, wer dort- und nur dorthin gelangen möchte, denn die Schotterstraße ist in einem erbärmlichen Zustand und wird im Herbst immer mal wieder von Schlammlawinenhinweggespült. Doch wenn man die Mühsal auf sich nimmt und geduldig die fast eineinhalbstündige Fahrt von Imperia hinter sich bringt, wird man belohnt. Nach der letzten Kurve muss man unwillkürlich innehalten, so anrührend und so bewegend ist der Blick, der sich einem bietet.
Oberhalb eines großen, terrassenförmig abfallenden Gartens mit uralten Apfel- und Mispelbäumen steht die Casa, ein Schmuckstück in verwaschenem Siena, mit zwei Säulen links und rechts des Eingangs und einem Vorplatz, der mit blendend weißen Kieseln bestreut ist. Das Haus sieht aus wie eine florentinische Villa im Kleinformat, und wer im Mai kommt, wird schon am Eingang von den üppigen Blüten des Blauregens und seinem Duft empfangen. Doch erst wenn man das Haus betritt und auf die zum Tal hin gelegene Terrasse gelangt, beginnt der eigentliche Zauber zu wirken. Hunderte, nein, Tausende von Glyzinien hängen in Rispen von der Pergola herab und umranken wie ein Rahmen den Ausblick – auf das Tal, die grünen Hügel und das Meer.
Für die Glyzinien war es noch zu früh im Jahr, doch die Sonne wärmte bereits, und so tat ich am ersten Tag nichts anderes, als im Liegestuhl zu liegen, den ich nur verließ, um mir hin und wieder etwas zu essen zu holen. Langsam gewöhnte ich mich an die Veränderung meines Körpers und ich wusste, dass es ihm besser ging, wenn er regelmäßig mit Nahrung versorgt wurde. Daher hatte ich mich in Imperia mit einer für eine einzige Person unmäßigen Menge an Lebensmitteln eingedeckt.
Den folgenden Tag verbrachte ich genauso, allerdings lauschte ich nun auf jedes Fahrzeug, das sich auf der in einiger Entfernung verlaufenden Landstraße näherte, in Erwartung des Postboten, der mir eine Sendung von Roman bringen sollte. Ich hatte vergessen, ihn zu fragen, wo er sich eigentlich befand, und nun rätselte ich natürlich, wie lange ein Brief von Florida in die ligurische Provinz unterwegs wäre. Irgendwann begann ich, mir noch einmal sämtliche Unterlagen vorzunehmen,die in dem Päckchen aus dem Bankschließfach gewesen waren. Dieses Mal las ich zuerst die Zettel, die ich das letzte Mal ignoriert hatte, weil ich nicht sofort aus ihnen schlau geworden war. Was hatten all die Zahlenkolonnen zu bedeuten? Und hinter den Zahlenkolonnen, am rechten Rand, hatte jemand Namen notiert, handschriftlich. Ich betrachtete die Namen genauer und war mir nun sicher, dass diese Notizen von Mutter stammten. Schwer lesbar und – euphemistisch gesagt – sehr individuell. Die Namen waren nur mit Mühe zu entziffern. Wenn mich nicht alles täuschte, so handelte es sich bei den Zahlen um Kontonummern und Bankleitzahlen. Vom linken Konto (das immer dasselbe war) flossen Zahlungen auf die rechten Konten samt Bankleitzahl. In der mittleren Spalte mussten die dazugehörigen Summen notiert sein, auch wenn keine Währung dahinterstand. Bei den Beträgen, die sich zwischen 500 und 1000 Euro bewegten, schien es sich um monatliche Überweisungen zu handeln. Aber ich verstand nicht, welchem Zweck sie dienen sollten. Was hatte das zu bedeuten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Vielleicht war dieses Blatt einfach zwischen die anderen geraten? Mutters Kontonummer stimmte jedenfalls mit keiner dieser Nummern überein. Am besten wäre wohl, ich würde Frau Glöckler, Mutters Steuerberaterin, kontaktieren. Vielleicht konnte sie mir etwas dazu sagen.
Ich erfragte die Wiener Nummer über die internationale Telefonauskunft und legte wenig später das Blatt ins Faxgerät. Frau Glöckler würde das für mich überprüfen und sich dann wieder melden.
Ich lehnte mich zurück in meinem Liegestuhl, legte beide Hände auf meinen Bauch, ließ den Blick über die pelzigen Hügel schweifen, auf denen bereits der zartgrüne Schleier des Frühlings lag, bis hin zu der Stelle, wo das Meer zwischen den beiden Hügelkuppen zu sehen war. Ich würde ein Kind bekommen. Wenn ich es zuließ. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Bauch wachsen würde, wie ich immer behäbiger undunförmiger aussehen würde. Und wie – eines Tages – plötzlich ein neuer Mensch da wäre. Mein neuer Mensch, der zu mir gehörte. Ich schluckte. Oma, dachte ich plötzlich. Was hat sie durchgemacht. Ein Kind zu verlieren. Dieses tote Kind im Arm zu halten. Ich schlug die
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