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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Frankfurter Rechtsanwalts ausfindig machen wollte: Es waren die Namen auf den Versuchsberichten gewesen. Und natürlich hatte sie Dr.   Reuther nicht erklären können – oder wollen   –, woher diese Namen stammten.
     
    Schon als ich um die Kurve bog, sah ich auf der Schwelle vor der Haustür ein Päckchen liegen. Hastig kletterte ich aus dem Wagen und hob es auf. Es war von Roman, abgestempelt in Wien. Vor Überraschung wäre mir das Ding fast wieder aus der Hand geglitten. Er war bei unserem Telefonat in Wien gewesen! Und jetzt erinnerte ich mich.
Ich hatte gehofft, wir könnten uns sehen.
Waren das nicht seine Worte gewesen? Also war er schon zu diesem Zeitpunkt in Wien gewesen. Ich schloss die Haustür auf und riss noch im Gehen das Packpapier auf. Es war eine Kopie des kompletten Manuskripts. Mit fliegenden Fingern blätterte ich bis zu der Stelle, an der das schwarze Buch endete. Tatsächlich. Es waren schätzungsweise dreißig, vielleicht auch vierzig Seiten, die herausgerissen worden waren und die ich nun als Kopie in Händen hielt. Und wie es aussah, gab es da noch ein Kapitel – neben dem Epilog   –, das ebenfalls gefehlt hatte. Mit klopfendem Herzen trat ich auf die Terrasse, stellte mich an die Brüstung. Der Nachmittag ging in den Abend über und doch war es noch mild, richtig frühlingshaft. Ich blickte über das Tal, sah die Schatten länger werden und das Blau noch eine Spur blauer. Ich dachte an das, was ich gleich lesen würde, was ich gleich erfahren würde. Ich dachte an Wolf. An das Kind, das ich erwartete. Ich sollte ihn anrufen, ihm alles sagen. War ich ihm das nicht schuldig, nach all den Jahren? Ich wollte spüren, wie es sich anfühlte, seine Stimme zu hören. Doch dann fiel mir Roman wieder ein, das ganze Chaos, in dem ich steckte. Ich atmete tief ein und wieder aus. Die Schönheit der Hügel um mich, dieser laue Frühlingsabend, die Verheißung, die darin lag – all das schien mir auf einmal beinahe wehzutun.

 
    Es war im März 1950, als ich Sartorius wiedersah. An der Rezeption eines Hotels in Sankt Peter-Ording. Ich hatte inzwischen geheiratet, Gustav Benthin, einen guten und lieben Mann, der uns, Lilli und mir, ein Leben in Sicherheit ermöglichte.
    Es hatte mich ans andere Ende von Deutschland gezogen, an den Bodensee, ich wollte so weit wie möglich weg von Bremen. Im Herbst 1946 waren Lilli und ich in Lindau in einem Gartenhäuschen untergekommen, das so winzig war, das darin nur ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Kanonenofen Platz hatten. Und dennoch war ich nach fast eineinhalb Jahren in einem Durchgangszimmer überglücklich, dass wir nun ein Reich ganz für uns hatten. Jeden Morgen, noch vor Anbruch der Dämmerung, weckte ich Lilli, packte sie warm ein, in mehrere Schichten, und machte meine übliche Runde um die Insel, um Treibholz für unseren Bullerofen zu sammeln.
    Gustav Benthin gehörte zu den Verrückten, die das ganze Jahr über im See badeten. Und so sah ich ihn bald jeden Morgen, wie er eine flechtenüberzogene Steintreppe von einem der Häuser herunterkam, den Bademantel auszog und auf die Treppe legte und in den See ging. Wir grüßten uns jedes Mal höflich, wechselten ein paar Worte und Ende November fragte ich ihn das erste Mal, ob es jetzt nicht bald genug sei, die Sommerfrische sei ja nun wirklich zu Ende. Da lachte er und sagte, er gehe das ganze Jahr ins Wasser und deshalb sei er auch nie krank. Es dauerte bis kurz vor Weihnachten, bis er mir anbot, mich vom Holz auf seinem Grundstück zu bedienen. So lernten wir uns kennen und ein Jahr später heirateten wir. In der Zeit vor ihrem sechsten Geburtstag kränkelte Lilli häufig, auch war sie blass und schmal und appetitlos.Der Arzt verordnete uns eine Seekur und schickte uns nach Sankt Peter-Ording an die Nordsee.
    Es war ein regnerischer Tag im März, der Wind peitschte durch die Straßen und ich stand in der Hotelhalle und wartete auf Lilli, die ihren Regenmantel im Zimmer vergessen hatte. Als wäre es gestern geschehen, sehe ich noch die Drehtür des Hotels, den Eingangstresen aus rötlichem Holz, auf dem eine große Messingglocke stand. Und als wäre es gestern gewesen, spüre ich noch seinen Blick auf mir, von der anderen Seite der Halle her. Natürlich wusste er sofort, dass auch ich ihn erkannt hatte, und kam langsam auf mich zu. Und da standen wir einander gegenüber und starrten uns an wie Geister aus einem bösen Traum. In seinem Gesicht zuckte es, doch seine Augen waren unbeweglich auf

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