Herbstvergessene
sprechen dürfen?«
Frau Hild tauchte wieder auf und ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie zu uns herüberspähte. Ich trat zur Seite, er ging an mir vorbei in die Diele und ich schloss die Tür hinter ihm. Einen Augenblick lang standen wir uns so gegenüber, Lillis Vater, der Mann, der Hanna und auch mein Paulchen auf dem Gewissen hatte. Und wer weiß wie viele Menschenleben sonst noch. Durch das Fenster fielen Rauten von Licht auf den Steinboden, Staubpartikel tanzten in den Sonnenflecken und das Ganze erschien mir unwirklicher denn je.
Er hatte sich nur wenig verändert in den Jahren, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, an jenem Nachmittag in Hohehorst. Sein Gesicht war noch immer nahezu faltenlos, sein Haar voll und blond und seine Augen waren noch genauso klar und kalt und durchdringend. Wie war es möglich, dachte ich, als er so vor mir stand, dass das Hässliche, Böse eine derart makellos schöne Maske hatte finden können?
»Ich werde zur Polizei gehen, wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen.«
Er antwortete nicht gleich, betrachtete mich beinahe belustigt, zog die Augenbrauen hoch: »Oh? Dann muss ich mich also fürchten?«
»Sie haben Hanna getötet.«
Er lächelte.
Ein Moped fuhr knatternd vorüber, Kinder redeten auf dem Weg zur Schule auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Dann war es wieder still, so still, dass ich ihn atmen hörte. In die Stille hinein sagte ich: »Ich weiß es.«
»Hanna ist, soweit ich weiß, an Typhus gestorben.«
»Sie haben Sie mit Typhusbakterien infiziert.«
Er starrte mich an, auf seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Wir maßen uns stumm und schließlich sagte er: »Du hast die Unterlagen also.«
»Ja. Ich habe sie. Und ich bin sicher, dass die Polizei sich sehr dafür interessieren wird.«
Wieder lächelte er, als habe ich einen besonders gelungenen Scherz gemacht. Ohne den Blick von mir zu nehmen, griff er in sein Jackett und holte mehrere Papiere heraus. Er faltete sie auseinander und hielt sie mir vors Gesicht, ganz dicht: eine graue Karteikarte des Lebensborn,
Charlotte Hanna Sternberg
stand darauf. Und daneben am Rand war mit kleinen Lochnieten ein gestempeltes Passbild befestigt.
»Vielleicht würde die Polizei dann auch interessieren, wie Charlotte Hanna Sternberg wirklich ausgesehen hat. Und dass du mein Kind entführt hast und untergetaucht bist. Ich gehe mal davon aus, dass du dein süßes Geheimnis mit niemandem geteilt hast, nicht wahr, Emmilein? Oder weiß der Göttergatte, was für ein Kuckucksei er sich da ins Nest geholt hat?«
Ich schluckte. Auf einmal war mir ganz kalt. Seine Stimme schien wie aus weiter Ferne zu kommen und ich konnte meine Augen nicht von ihm wenden, während er weitersprach: »Und das süße Kind, was für ein Schock und was für eine Enttäuschung, wenn eserfährt, dass du gar nicht seine Mutter bist. Dass du noch nicht einmal die Frau bist, deren Namen du trägst. Und dann der Skandal!«
Wieder machte er eine Pause, rollte betont dramatisch mit den Augen und senkte die Stimme: »Ich habe Erkundigungen eingezogen über deinen Mann. Ein erfolgreicher Unternehmer, an verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen beteiligt. Und dann die Schlagzeile:
Unternehmerfrau entführt Kind und behält es als eigenes!«
Er ging zur Wohnzimmertür und sah sich um, nickte nachdenklich.
»Aber das Schlimmste ist doch etwas ganz anderes, nicht wahr? Das Schlimmste sind natürlich die Behörden. Und dass sie unter diesen Umständen das Kind nicht bei einer solchen Frau belassen können. Bei einer Kriminellen! Und dann werden sie kommen, zwei Beamte, vielleicht in Begleitung der Polizei. Sie werden an dieser Tür klingeln und dann …«
Er ging langsam ins Wohnzimmer, machte auf dem Absatz kehrt und kam dann auf mich zu, bis er ganz nah vor mir stand. Seine Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern: »Dann werden sie sie holen kommen. Und es wird fast wie damals sein. Nur dass wir es heute mit einem sogenannten Rechtsstaat zu tun haben.« Er spuckte das Wort beinahe aus und senkte sein Gesicht auf meines herab, bis seine Lippen fast die meinen berührten.
»Ich will die Unterlagen«, flüsterte er.
In diesem Moment fasste ich einen Entschluss.
»Ich habe sie nicht hier«, stammelte ich. »Ich … habe sie versteckt. In unserem Ferienhaus in Ligurien. In zwei Wochen werden wir dort sein … Gustav nimmt an einer Tagung in San Remo teil und ich … ich werde dort sein, in dem Haus … eine Woche lang allein. Sie können die
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