Herbstvergessene
bringen.«
In, wie ich fand, gespieltem Entsetzen rief er: »Ach, Maja, deine Mutter hätte diese Wahrheit
niemals
an die Öffentlichkeit gezerrt.«
»Und wieso hat sie das Manuskript dann an einen Verlag gesandt, hä?!«
Er seufzte. »Ich weiß es nicht. Maja, ich … davon wusste ich nichts, erst durch dich habe ich davon erfahren, bitte, Maja, du musst mir das glauben.«
Plötzlich tauchte etwas aus den Tiefen meiner Erinnerung auf. Etwas, noch unscharf, bahnte sich seinen Weg nach oben. Ja, das war es: »Kannst du dich erinnern, ob das Buch einen Epilog hatte?«
»Einen Epilog? Ja … ja, aber ich denke, du hast es selbst gelesen.«
»Roman. Kannst du mir eine Kopie davon schicken. Von dem ganzen Dokument?«
»Aber … ja …« Er schien verwirrt.
»Ich gebe dir die Adresse, unter der ich die nächste Zeit zu erreichen bin. Kannst du die Kopie morgen gleich auf die Post geben?«
Einen Moment lang schien er zu zögern. Dann sagte er, und es klang beinahe wie ein Seufzen: »Du gibst ja sonst doch keine Ruhe!«
Im Blauregenhaus
Ich habe später oft darüber nachgegrübelt, was es letztlich in erster Linie gewesen war, das mich geweckt hat. Ein Geräusch, ein Geruch, ein Traum, mein Schutzengel. Oder alles zusammen. Vielleicht hatte mein Schutzengel mir mitten in meinen Traum hineingeflüstert und mich gefragt, warum es hier wie nach faulen Eiern roch. Die Antwort darauf werde ich wohl nie erhalten. Ich weiß nur, dass ich diesen scharfen Geruch in der Nase hatte und dass ich mich einen Moment lang fragte, warum mir der Kopf so schwer war. Wie in Trance schlug ich die Decke zurück, verhedderte mich fast darin, taumelte und steuerte direkt die Küche an. Und tatsächlich. Aus dem Herd strömte Gas. Mit einer unerwarteten Geistesgegenwart öffnete ich alle Fenster und Türen in der Wohnung und drehte schließlich den Haupthahn ab. Dann erst sah ich mir den Herd genauer an. Der rechte Drehknopf war leicht geöffnet. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal betätigt hatte. Richtig, gestern Abend war es gewesen, als Roman angerufen hatte. »Wie verpeilt kann man eigentlich sein?«, murmelte ich, während ich den Knopf auf und zu drehte. Und erst dann fiel mir ein, dass das nicht der erste Gasunfall war, der sich mit diesem Herd ereignet hatte. Die Erkenntnis traf mich mit einer Heftigkeit, die mich schwindeln machte. Ich stützte mich auf der Arbeitsfläche ab und langsam, ganz langsam, gaben meine Knie nach und ich sackte nach unten, auf den Boden. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, wie ein Kind, das auf die Mutter wartet oder auf Trost, auf irgendetwas, auf irgendjemanden, der es in den Arm nehmen würde und sagen, dass alles nur ein böser Traum gewesen ist.Irgendwann schaffte ich es aufzustehen, meine Siebensachen zusammenzuraffen, ins Auto zu steigen und fortzufahren, so weit wie möglich fort von Wien. Von dieser Wohnung, in der ich mich nicht mehr sicher fühlte.
Der Himmel war tatsächlich wie aus blauem Glas. Von der Terrasse aus überblickte ich das ganze Tal und zwischen zwei Hügelkuppen konnte ich sogar das Meer sehen, das in einem dunkleren Blau freundlich dalag wie in einer Schale. Ich schloss die Augen, die Sonne wärmte mein Gesicht wie ein warmes Tuch und die Vögel sangen, als wäre es das letzte Mal. Es war eine Idylle.
Das Haus meiner Großmutter im Hinterland von Imperia war alt und nicht sehr groß. Es hieß, ein Schriftsteller habe darin gewohnt, vor fünfzig Jahren, und davor ein reicher Unternehmer, der sich nach dem Tod seiner Frau von allen abgewandt und nie wieder einen Schritt zurück in die Welt getan hatte. Welcher Ort wäre besser geeignet, solcher Herzenseinsamkeit Ausdruck zu verleihen!
Das ligurische Hinterland ist ein Hort der vollkommenen Stille. Wenn man die Küstenstraße bei Imperia verlässt und in Richtung Pondedassio fährt, wird die Straße bald schmaler und irgendwann hat man den Eindruck, ins Niemandsland zu fahren. Kurve um Kurve legt man zurück, und auch wenn man es noch so eilig hat, an sein Ziel zu kommen, hier gibt es keine Schnellstraße, hier ist man gezwungen, sein Tempo den Wegverhältnissen anzupassen und mit dem Sträßchen die Hügel entlangzumäandern. Wer ein Leben auf der Überholspur führt, würde sich niemals freiwillig in diesen sanften Dschungel mit den Esskastanien und Mauleselpfaden begeben – es sei denn, er ist bereit, sich zur Langsamkeit umerziehen zu lassen. Den letzten Kilometer
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