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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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mich gerichtet.
    »So bist du’s tatsächlich«, sagte er schließlich fast tonlos.
    Ich konnte gar nichts sagen, starrte ihn nur an. Ich wollte fortgehen, fortrennen, Lilli entgegen, sie verstecken, doch meine Beine fühlten sich auf einmal so schwer an. Es war wie ein Bann. Ich konnte ihn nur ansehen.
    »Ich habe lange auf diesen Moment gewartet«, sagte er schließlich. Und dann fragte er, ohne mich aus den Augen zu lassen: »Wo ist mein Kind?«
    Ich antwortete nicht, Leute gingen an uns vorüber, eine Frau lachte und auf einmal erschien Lilli, den dunkelblauen Regenmantel über dem Arm. Sie fasste mich an der Hand, richtete ihre blauen Augen – seine Augen – auf mich, blickte von mir zu ihm und sagte dann artig: »Grüß Gott.« Da verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, zu einem breiten, belustigten Lächeln, als habe Lilli einen besonders gelungenen Scherz gemacht, und er streckte die Hand aus und lachte und sagte ebenfalls: »Grüß Gott«, und fügte dann, mit einem kaum wahrnehmbaren Zögern hinzu: »Kleine Lilli.«
    Lilli erwiderte sein Lächeln, verhalten zunächst und dann offener. Ich blickte von ihr zu ihm. Hier standen sie sich gegenüber, Vater und Tochter, und die eine wusste nicht, wer der andere war. Und dann kam plötzlich wieder Leben in mich und ohne einweiteres Wort fasste ich Lilli fest bei der Hand und zog sie fort, hinter mir her zur Treppe und rannte mit ihr aufs Zimmer. In Windeseile packte ich unsere Koffer, schmiss und stopfte alles wahllos hinein, bis es auf einmal an der Tür klopfte. Mit einer Bluse in der Hand hielt ich inne. Lilli, die mich schweigend und verunsichert beobachtete, regte sich nicht und ich legte den Zeigefinger auf die Lippen.
    So standen wir, mucksmäuschenstill, und lauschten. Auf das Klopfen an der Tür, auf das gedämpfte Staubsaugergeräusch aus dem Nebenzimmer. Auf den Schlüssel, der sich leise im Schloss drehte. Ungläubig und entsetzt sahen wir, wie die Tür aufschwang. Und blickten in die nicht minder erstaunten Augen des Zimmermädchens.
    Als wir in die Hotelhalle kamen, war er verschwunden. Ich näherte mich der Rezeption, wobei ich ständig nach links und rechts sah und versuchte, gleichzeitig die Drehtür und den Fahrstuhl im Auge zu behalten. Ich erklärte dem Portier, dass wir abreisen würden, und verlangte die Rechnung. Als ich ihm den Schlüssel auf den Tresen legte und ihm meinen Namen nannte, griff er in das Fach hinter sich und reichte mir einen kleinen weißen Umschlag mit dem Wappen des Hotels. Im ersten Moment dachte ich, es handle sich um die Rechnung, und war etwas erstaunt, dass sie schon bereitlag. Doch als ich den Umschlag öffnete, war darin ein kleiner Notizzettel von der Sorte, wie sie im Hotel auslag. Ich fragte, wer die Nachricht abgegeben habe, und erst, als der Portier bedauernd den Kopf schüttelte, las ich:
Ich werde dich überall finden. Und mir holen, was mein ist
.
     
    Ich weiß noch, dass es der erste richtig warme Tag in jenem Jahr war und dass Lilli unbedingt Kniestrümpfe anziehen wollte und dass sie durch das Hin und Her so spät dran war, dass sie rennen musste, um nicht zu spät in den Kindergarten zu kommen.
    Gustav war wie üblich bereits um halb sieben zu seiner Fabrik aufgebrochen und so war ich gerade dabei, Betten zu machen, als es an der Haustür klingelte. Ich lief die Treppe hinunter, in derÜberzeugung, gleich Lilli gegenüberzustehen, die etwas vergessen hatte. Doch als ich die Tür öffnete, stand er dort, Sartorius. Ich wich einen Schritt zurück und wollte die Tür wieder zudrücken, als unsere Nachbarin, Frau Hild, aus ihrem Haus trat und grüßte.
    »Was für ein Tag heute!«, rief sie und warf Sartorius einen neugierigen Blick zu. Und um kein Aufsehen zu erregen, winkte ich zurück und rief: »Ja, wirklich herrlich!«, und sah dann von ihr wieder zu Sartorius, der mich nicht aus den Augen ließ.
    »Möchtest du mich nicht hereinbitten, Charlotte? Oder soll ich dich Emmi nennen?«
    So hatte er es also tatsächlich herausgefunden, nach all den Jahren, und stand vor meiner Tür, es war Wirklichkeit. Einen Augenblick lang war mir, als bliebe mein Gehirn an dieser Stelle stehen, als repetiere es unentwegt diesen einen Gedanken, wie eine defekte Schallplatte. Ich rührte mich nicht vom Fleck, konnte mich nicht rühren. Ich sah ihn beide Arme ausbreiten, in einer leichten, ja heiteren Geste. »Ich werde doch noch mit   …«, er legte eine Pause ein und lächelte, »mit der Mutter meines Kindes

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