Herbstvergessene
hatte, Lore Klopstock darauf anzusprechen. Und dann war da ja auch noch dieses Manuskript, das irgendwo in Mutters Wohnung sein musste.
Ich fühlte mich immer noch müde und zerschlagen, denn ich hatte in dieser Nacht nur ein paar Stunden Schlaf gefunden. Gegen vier war ich aufgewacht, hatte Wolfs Schnarchrhythmus gelauscht und gegrübelt – über Mutter und die alten Wunden. Und dann war mir auf einmal Elvira eingefallen, aus heiterem Himmel, eine Schulfreundin aus dem Institut am Rosenberg, an die ich schon so viele Jahre nicht mehr gedacht hatte, dass ich beinahe daran zweifelte, sie je gekanntzu haben. Elvira mit dem langen, blonden Haar bis zur Taille, die aussah wie ein vom Himmel herabgestiegener Engel. Einmal begleitete sie mich in den Internatsferien nach Wien und zusammen mit Mutter spazierten wir durch den Prater, als eine Frau Mutter am Ärmel fasste, eine Kollegin, und diese Frau, mit einem Blick auf Elvira sagte: »Ja, da sieht man doch gleich, das Fräulein Tochter ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.« Und wie Mutter es danach ganz eilig gehabt hatte weiterzukommen und nichts, rein gar nichts gesagt hatte, um das Missverständnis aufzuklären. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals. Alte Geschichten, dachte ich. Und dass ich endlich würde lernen müssen loszulassen. Außerdem musste es doch etwas bedeuten, dass sie all meine krakeligen Kinderzeichnungen aufgehängt hatte!
Ich nippte an meinem Tee. Dann holte ich einen Block und einen Stift und begann einen Brief an den Frankfurter Anwalt zu schreiben. Ich bat ihn darum, mir Auskunft darüber zu geben, in welcher Angelegenheit Mutter ihn kontaktiert hatte. Ich legte Kopien der Sterbeurkunde und meiner Geburtsurkunde bei, die Wolf mir mitgebracht hatte. Je mehr ich über die Sache nachdachte, desto unverständlicher erschien es mir, dass Mutter einen Rechtsbeistand in Frankfurt beauftragt hatte. Wo es in Wien vor Anwälten doch nur so wimmelte. Ein Anwalt in gut 700 Kilometern Entfernung, das machte doch nur dann Sinn, wenn man dort in der Gegend ein Verfahren anstrengen wollte und einen Anwalt vor Ort brauchte. Oder aber, dachte ich, wenn dieser Anwalt etwas konnte oder zu bieten hatte, was andere nicht konnten oder nicht zu bieten hatten. Da kam mir ein Gedanke. Ich schaltete den Laptop ein, und als er hochgefahren war, gab ich
Dr. Klaus Reuther
im
Google
-Suchfenster ein. Eine Vielzahl von Einträgen erschien. Zuerst seine eigene Homepage, die Auskunft über seine Spezialisierung als Anwalt auf Familien- und Erbrecht gab. Ich runzelte die Stirn. Vielleicht hatte Mutter mich ja enterbt und ich wusste noch gar nichts davon. Die Testamentseröffnungstand jedenfalls noch aus. Aber hätte sie das nicht auch mit einem Wiener Anwalt machen können? Ich klickte noch ein bisschen herum und landete bei einem Zeitungsartikel. Und da sah ich es: Dr. Klaus Reuther war spezialisiert darauf, Kindern, die in einem Lebensborn-Heim auf die Welt gekommen waren, bei der Suche nach ihrer wahren Identität zu helfen.
Ich rannte so schnell ich konnte hinter Ingeborg her. Einmal stolperte ich und wäre fast gestürzt, doch ich fing mich noch rechtzeitig und taumelte weiter. Hinter jeder Straßenecke hoffte – und fürchtete – ich, das blau-weiß getupfte Kleid auftauchen zu sehen. Und schließlich erblickte ich sie, in unserer Straße, ein paar Häuser von daheim entfernt. Noch bevor ich sie erreichte, wandte sie sich um, vom Stakkato meiner Schritte aufmerksam geworden. Nie werde ich den Ausdruck in ihren Augen vergessen, als sie mir entgegensah. In ihnen lag ein solch selbstgerechter Triumph, dass ich unwillkürlich stehen blieb, mitten auf dem Bürgersteig. Und während wir uns maßen, jede stumm die andere fixierend, waren ihre Blicke wie Nadeln.
Als jedoch bis zum Abend nichts geschehen war, schlüpfte ich vor dem Schlafengehen in ihr Zimmer und fragte sie: »Wirst du mich verraten?« Und während ich auf ihre Reaktion wartete, bang und gleichzeitig von einem schier atemberaubenden Zorn erfüllt, glaubte ich in ihrem Schweigen die Antwort zu hören.
Die Tage, die nun folgten, lebte ich eingesponnen in einen Kokon der Angst. Wenn mein Stiefvater im Nebenzimmer die Stimme erhob, so erwartete ich, dass er im nächsten Moment bei mir hereinstürmen, mich am Arm packen und halb totschlagen würde. Wenn ich Ingeborg in der Küche murmeln hörte, dann legte ich mein Ohr an die Tür, immer damit rechnend, dass mein Betrug nun auffliegen
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