Herbstvergessene
geschüttelt hätte, mir übers Haar gestrichen und gesagt hätte: »Warum sollte denn jemand deine Mutter töten?« Und dann hätte ich nur von der verschwundenen Autobiografie erzählen können und von dem Schlüssel und dass nichts richtig zueinander passte, schon gar nicht das Datum auf dem Foto und das Geburtsdatum meiner Mutter. Und dass ein vergilbter Zeitungsartikel eine irrationale Furcht in mir ausgelöst hatte.
Den restlichen Tag hatte ich damit zugebracht, die Titel über den Lebensborn querzulesen, und war bei einem Buch, das sich ausschließlich mit dem Lebensborn-Heim in Hohehorst beschäftigte, hängen geblieben. Abends ging ich noch auf einen Sprung zu Erna, die ich jetzt beim Vornamen nannte. Ich hatte einen Schuhkarton mit alten Fotos dabei; wir rauchten, tranken Moosbeerenschnaps und ich überlegte laut, was ich als Nächstes tun würde. Wir betrachteten die Bilder, Erna roch nach Kölnisch Wasser und ich wurde wehmütig.
»Ach, Maja, Kind«, sagte Erna und seufzte.
Ich seufzte auch und legte die Bilder wieder zurück.
»Was haben S’ denn nun mit der Wohnung vor?«, fragte sie unvermittelt.
Ich nahm einen Schluck, der Moosbeerenschnaps brannte mir auf der Zunge.
»Ich weiß nicht. Ich würde sie wohl gerne behalten. Aber obich das kann, finanziell, meine ich … Ich weiß ja gar nicht, wie das Haus hier generell so dasteht, wie viele Rücklagen gebildet wurden und so weiter.«
Erna zuckte bedauernd mit den Achseln.
»Ich bin nur Mieterin. Aber mir täte es leid, wenn Sie sie verkaufen würden …«
Ich schnippte die Asche ab und nickte. Plötzlich entfuhr mir die Frage: »Sagt Ihnen der Lebensborn etwas?«
Ihr Gesicht blieb unbeweglich, völlig neutral, und doch hatte ich den Eindruck, als glitte ein Schatten über ihre Augen. Sie antwortete: »Der hatte doch was mit ledigen Müttern zu tun. Und mit den Nazis.«
Das letzte Wort spuckte sie förmlich aus. Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn. Die Augen taten mir weh, das lange Lesen bei schlechtem Licht, ich hatte auf dem Teppich gelegen und nur die Deckenlampe eingeschaltet gehabt. Da hakte Erna nach: »Wie kommen S’ denn da drauf?«
»Ach, alte Geschichten«, murmelte ich, plötzlich matt und traurig von zu viel Schnaps und zu vielen Zigaretten. Ich wurde das Gefühl nicht los, etwas übersehen oder unterlassen zu haben. Etwas Wichtiges. Aus dem Karton sahen Omas Augen lachend zu mir auf. Ich begegnete Ernas Blick und in ihrem Schweigen lag eine Aufforderung.
»Ich weiß nicht, ob es Mutter recht gewesen wäre … na ja, egal … ich glaube, sie ist in so einem Heim auf die Welt gekommen.«
Ich stotterte noch ein wenig herum, dann sagte ich, und Erna schien zu merken, dass es mir schwerfiel: »Ich habe ihre Geburtsurkunde gefunden, da bin ich auf den Namen Hohehorst gestoßen. Zuerst hab ich gedacht, das wäre einfach ein Ort, und hab mich nur gewundert, warum ich den Namen nie gehört hatte. Aber das war ein Lebensborn-Heim.«
Erna nickte. »Ihre Großmutter war also zum Zeitpunkt der Geburt ledig? Schauen Sie doch nicht so!« Erna lachte auf, ihr Lachen klang rau.
Ich sah sie fragend an, doch sie schwieg. Also hakte ich nach: »Wie meinen Sie das?«
»Ihr Jungen heute seid so aufgeklärt. Alles ist möglich, alles ist erlaubt, aber wenn dann … na ja … Egal, Ihre Oma hat also ein uneheliches Kind auf die Welt gebracht.«
»Das ist es ja gar nicht!«
»Was ist es dann? Das Heim?«
»Ja … ja … das ist schon irgendwie … komisch für mich. Ich meine, heute weiß man ja – oder glaubt zu wissen, dass die Geschichte mit den Zuchtanstalten Quatsch war. Jedenfalls gibt’s dafür keine Beweise … Aber trotzdem ist es irgendwie seltsam, dass die eigene Großmutter, wenn auch unwillentlich, in so einem Heim war … und …«, ich starrte vor mich hin, schluckte, »und nie etwas davon gesagt hat.«
»Aber ich bitte Sie!«, rief Erna, plötzlich aufgebracht. »Die meisten dieser Generation, zu der ich ja auch beinahe gehöre, erzählen nicht gern von damals. Was wir gesehen haben, war so furchtbar, dass man nie wieder daran erinnert werden wollte … will.«
Ich betrachtete Erna und fragte mich zum ersten Mal, wie alt sie wohl war – um die siebzig, schätzte ich – und was sie gesehen haben mochte. Sie hatte die Lippen aufeinandergepresst und ihre Augen blickten hart und unversöhnlich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich. Nach einer Weile sagte
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