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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihr diagnostiziert. Sie hatte die üblichen Symptome, chronische Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust. Irgendwann sprachen wir dann auch über eine Chemotherapie. Doch Ihre Mutter hatte da entschiedene Ansichten.« Er nahm einen Zug, hustete und seufzte dann: »Ich als Arzt muss in   … so einem Fall entscheiden, bei welcher Therapiemaßnahme die besten Aussichten auf Heilung bestehen. Also   …« Er räusperte sich, nahm einen Schluck von dem Wein, der tiefrot in seinem Glas aufleuchtete, ein tiefes, samtiges Rubinrot. Er betrachtete es gedankenverloren, bevor er fortfuhr: »Vor etwa einem Jahr   … haben wir uns angefreundet, Ihre Frau Mutter und ich. Es war ein spätes Glück, das wir gefunden hatten, wenn ich so sagen darf.«
    »Ach.« Verblüfft sah ich ihn an.
    »Nun ja   … So war das.« Prohacek räusperte sich, ein junger Mann vom Cateringservice kam und Prohacek stellte sein leeres Glas auf das Tablett. »Deshalb hatte ich ihr auch geraten, einen anderen Arzt zu konsultieren. Ich   … hatte Sorge, sie nicht ganz objektiv betreuen zu können.«
    »Und war sie bei einem anderen Arzt?«
    Erna Buchholtz trat neben Dr.   Prohacek, der plötzlich verstummte. Die beiden nickten sich zu und ein eigenartiges Schweigen senkte sich über uns alle. Bis Prohacek beinahe hastig sagte: »Ich werde dann mal aufbrechen. Meine Patienten warten.«
    Ich sah von einem zum anderen und fragte mich, ob die beiden, Prohacek und Erna, gerade die Klingen gekreuzt hatten. Oder ob der Alkohol mir die Sinne vernebelt hatte.
     
    Die Trauergäste gingen und was blieb, war das Echo der Leere. Die Reste des Büfetts waren von einem jungen Mann undeiner jungen Frau weggeräumt und wieder verstaut worden, in irgendwelche Boxen, die leeren Flaschen aus der Küche wirkten fehl am Platz. Nicht wenige der Gäste hatten mir beim Abschied die Hand gedrückt und mich eindringlich gebeten, sie anzurufen, wenn ich bei einer Sache Hilfe bräuchte. Und dann waren sie plötzlich alle weg gewesen, Lotte Palmstengel, mit ihren Glacéhandschuhen, die diesmal schwarz gewesen waren, das Gesicht hinter einem Schleier. Lore Klopstock, die beim Abschied mit den Tränen kämpfte, und Dr.   Prohacek, der mir in väterlicher Manier die Hand drückte und mich damit fast zum Weinen gebracht hätte. Ich dachte flüchtig daran, wie viele wohl nach meinem Tod bei der Beerdigung erscheinen würden, so ein summendes Treiben wie bei Mutter würde es bei mir bestimmt nicht geben. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass für Mutter der Mangel an Verwandten in unserem Leben überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Sie hatte das fehlende verwandtschaftliche Netz mit Freunden und Bekannten gewoben, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Es hätte auch gar nicht zu Mutter gepasst, Umgang mit irgendeinem miesepetrigen Onkel Walter zu pflegen, der jede Familienfeier durch seine schlechte Laune verdarb, oder sich das Gezeter irgendeiner Tante Johanna anzuhören, die an niemandem ein gutes Haar ließ. Dazu war Mutter zu selbstbestimmt gewesen. So oder ähnlich hatte sie mir das als Kind oft dargelegt und dennoch hatte ich immer ein anderes Bild von Familie gehabt.
    Als Kind hatte ich darunter gelitten, weder Geschwister noch Cousins zu haben, ja noch nicht einmal eine leibliche Tante oder einen Onkel. Wenn andere Kinder im Internat von ihrer Familie erzählten, mal mit gerümpfter Nase, mal voller Freude, hatte ich schweigen müssen. Das Einzige, was ich zu bieten hatte, war die besagte Schwester meines (noch nicht einmal leiblichen) Großvaters, die seit vielen Jahren im Ausland lebte, sowie mein Patenonkel, der ein Freund meines früh verstorbenen Vaters gewesen war und der irgendwann einmal nach Brasilien ausgewandert war – seine Patenschafthatte sich darauf beschränkt, mir ab und zu Postkarten zu schicken, mit einem Jesus darauf oder Ansichten der Copacabana. Im Institut am Rosenberg, einem der Internate, das den ersten Akt meiner Kindheit unter sich begraben hatte, ging mein Wunsch nach einer großen Familie so weit, dass ich eines Tages begann, sie mir herbeizudichten. Und in den letzten Monaten hatte ich mich doch tatsächlich wieder dabei ertappt, wie ich auf der Straße Eltern mit ihren Kindern hinterhersah und mich dabei fragte, wie das wohl sein mochte. Eine richtige Familie zu haben.
     
    Der nächste Morgen graute, ein papierener Morgen, an dem Wolf zurückfliegen würde. Gereizt saßen wir bei einem frühen Frühstück und kehrten zu unseren

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