Herbstvergessene
im Ankleidezimmer oder besser gesagt in Mutters begehbarem Kleiderschrank. Ihre Kostüme und Hosenanzüge hingen säuberlich, nach Farben geordnet, auf der Stange. Jedes einzelne schob ich zur Seite, griff in die Taschen, man konnte ja nie wissen, wandte mich, nachdem ich nicht fündig wurde, der Kommode und schließlich dem Nachttisch zu. In den Schubfächern das übliche Innenleben: Tempotaschentücher und Nasentropfen, Salbei-Halspastillen, ein paar Bücher, in denen Mutter offenbar vor dem Einschlafen gelesen hatte. Ich besah mir die Titel:
Anforderungsprogression und Leistungsevaluation beim bilateralen Konsekutivdolmetschen
und
Portfoliodidaktik in der Dolmetscherausbildung. Ein Projekt für das bilaterale Konsekutivdolmetschen.
Eine fast körperliche Abneigung ergriff mich und ich lachte bitter auf. Unwillkürlich fielen mir Lore Klopstocks Bemerkungen über meine angebliche Karriere als Kodo wieder ein. Das war ja wohl der Gipfel! War ich in Mutters Augen
so
eine verkrachte Existenz, dass sie es nicht über sich gebracht hatte, anderen die »Wahrheit« über mich und mein Leben zu sagen? Wenn sie doch wenigstens geschwiegen hätte! Ich musste husten, griff nach den Salbeibonbons und öffnete die Schachtel. Beim Herausziehen der Pastillen flatterte der Beipackzettel zu Boden. Ich drückte mir eine Pastille heraus und griff nach dem Zettel. Da fiel ein zweiter Zettel, der darin steckte, herunter. Ich hob ihn auf, entfaltete ihn. Es war ein alter Zeitungsartikel, angegilbt und an einer Stelle eingerissen. Die Überschrift lautete:
Vermisst gemeldeter Arzt bleibt unauffindbar.
Oben hatte jemand in spitzer, altmodischer Schrift vermerkt:
Husumer Nachrichten
, das Datum fehlte. Ich las:
Der Husumer Arzt Dr. Heinrich Sartorius bleibt weiterhin verschwunden. Nach Zeugenberichten war er am 25. März das letzte Mal gesehen worden. Die Familie und die Polizei stehen vor einem Rätsel. Ein Verbrechen kann zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht mehr ausgeschlossen werden. Sachdienliche Hinweise, die etwas über den Verbleib des Vermissten aussagen, werden von jeder Polizeidienststelle sowie von der Kriminalpolizei Husum entgegengenommen.
Langsam senkte ich das Blatt. Ich betrachtete das vergilbte Papier, den Riss, die Schrift darauf, dann schweifte mein Blick weiter, auf das Fischgrätmuster des Parkettbodens. An einigen Stellen müsste er ausgebessert werden. Plötzlich spürte ich die Kälte in meinen Händen und Füßen, ich fror. Ich hatte nur im Wohnzimmer und in der Küche die Heizung angestellt – das Ergebnis von Wolfs guter Erziehung in Sachen Energiesparen. Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte Mutter es für nötig befunden, diesen Zeitungsausschnitt in einer Tablettenschachtel zu verwahren? Und plötzlich fragte ich mich, ob dieser Mann je wieder aufgetaucht war.
In einer Beziehung kann man nicht alles in Worte fassen und es gibt immer Dinge, über die man mit dem anderen besser nicht spricht. Der vermeintliche Selbstmord meiner Mutter war so ein Thema. Ich wusste, dass Wolf nicht dazu imstande war, sich irgendetwas vorzustellen, was darüber hinausginge. Wolf gehörte zu den Menschen, die immer zuerst das Gute sahen. »Ich mag das gar nicht glauben«, war einer der Sätze, die er sagte, wenn ich ihm von einer unschönen Begegnung oder einem jener Mitmenschen erzählte, die nicht so wohlwollend und gütig waren wie er. In all den Jahren habe ich nie erlebt, dass er schlecht über jemanden gesprochen hätte, und über jemanden zu lästern kam für ihn schon gar nicht infrage. Ich fand es manchmal geradezu anstrengend, mit so einem Gutmenschen zusammen zu sein. Mit jemandem, der einem durch seine schlichte Präsenz und die Art, über bestimmte Dinge zu schweigen, die Mängel im eigenen Charakter aufzeigte. Wenn ich mich hin und wieder über einen wankelmütigen oder überheblichen Auftraggeber aufregte, dann forderte mich Wolfprompt auf, mich einmal in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Wenn ich beim Autofahren über einen Drängler oder einen Vorfahrtsignoranten schimpfte, dann lächelte er nachsichtig und schüttelte den Kopf. Manchmal hätte es mir einfach gutgetan, wenn er gesagt hätte: »Ja, du hast recht, was ist das für ein verdammtes Arschloch!«
Und so hatte ich Hemmungen, mit Wolf über die Zweifel zu sprechen, die mich überfielen, wenn ich daran dachte, dass Mutter sich in den Tod gestürzt haben sollte. Ich sah ihn vor mir: wie er mich in den Arm genommen und den Kopf
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