Herbstvergessene
würde.
Es war der Tod ihres Mannes, der mich rettete. Er kam in Form eines Briefes, der an Ingeborg adressiert war, in einem Umschlagmit schwarzem Rand. Noch bevor sie ihn öffnete, wussten wir alle, was darin stehen würde.
Hans Wilhelm war gefallen, »in Erfüllung seiner Pflicht für das Vaterland«. Erst später erfuhr ich, dass ein polnischer Widerstandskämpfer dem S S-Obersturmbannführer Hans Wilhelm die Kehle durchgeschnitten hatte. In einem Akt der Vergeltung hatte die SS daraufhin ein ganzes Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem Brief verlor Ingeborg nicht nur das Interesse an mir. Sie verlor das Interesse am Leben und es gelang Mutter nur mit großer Mühe, sie morgens zum Aufstehen zu bewegen und dazu, weiterhin ihrer Arbeit an der Albertus-Universität nachzugehen, wo sie im Institut für Heimatforschung und Volkskunde arbeitete. Und dann kam der Tag, an dem ich bemerkte, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war.
Wie die meisten jungen Mädchen damals war ich nicht sehr vertraut mit meinem Körper. Ich hatte wohl bemerkt, dass mir alles immer schwerer fiel, dass ich nun häufig müde war und es an so manchem Morgen fast nicht schaffte aufzustehen. Doch erst als ich immer empfindlicher auf Gerüche jeder Art reagierte, keimte das erste Mal der Verdacht in mir auf, dass dieser Zustand nichts mit meinem heimlichen Liebesglück und den damit verbundenen Gefühlswallungen zu tun hatte. An einem regnerischen Herbsttag schaffte ich es nach der Schule gerade noch nach draußen, um mich neben einem Baum zu übergeben. Es war der wachsame Blick meiner Stenolehrerin, die gerade in diesem Moment vorüberging, der mir mit einem Schlag klarmachte, was mit mir los war. Und einen Tag später verschwand Paul.
Es war Oktober 1943 und die ersten Herbststürme fegten durch die Straßen Königsbergs. Nach dem Mittagessen schrieb ich meine Hausaufgaben herunter, gleichgültig und eilig, in Gedanken schon bei Paul, den ich an diesem Nachmittag zwischen vier und fünf in der Mahler’schen Wohnung treffen würde. Doch als ich gerade losgehen wollte, bat Mutter mich, ihr noch rasch einen Eimer Kohlen aus dem Keller zu holen und den Ofen anzuheizen.Als ich das getan hatte, kam Stiefvater früher als gewöhnlich von der Arbeit. Und hinter ihm betrat Leni die Wohnung. Noch bevor sie zu sprechen begann, wusste ich, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Sie war blass und verweint, ihr Haar unordentlich, aber das Schlimmste war ihr Blick: angstvoll und ungläubig. Paul war von der Polizei abgeholt worden. Er wurde beschuldigt, einem jüdischen Ehepaar bei der Flucht geholfen zu haben. Und bei der Überprüfung seiner Daten war herausgekommen, dass er selbst eine jüdische Großmutter hatte.
Ein Rechtsanwalt, der sich auf die Belange von Lebensborn-Kindern spezialisiert hatte! Ich schloss das
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-Fenster und stand auf. Plötzlich spürte ich einen überwältigenden Ärger in mir hochsteigen: all diese Fragen, auf die ich keine Antwort wusste! Ich ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Ich musste Klarheit haben. In aller Eile kramte ich einen Zettel hervor und schrieb alles auf, was mir einfiel. Als ich das Ergebnis betrachtete, sprangen mir die wichtigsten Punkte sofort ins Auge: das Manuskript und der Schlüssel, der nirgends passte. Am besten wäre, ich würde die Wohnung systematisch nach einer Schatulle oder Kassette absuchen. Und dabei würde hoffentlich auch dieses Buch auftauchen. Und womöglich noch andere Dinge, die irgendwie Licht auf Großmutters Lebensborn-Vergangenheit warfen.
Im Laufe der nächsten Stunden drang ich bis in die hintersten Winkel der Schubladen und Schränke vor, stieß tatsächlich auf jede Menge mir noch unbekannter Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die ich auf dem Boden ausbreitete und im Vorbeigehen immer mal wieder betrachtete. Hier war zum Beispiel ein Foto, das Großmutter als ganz junges Mädchen mit zwei anderen zeigte. Die beiden anderen waren schick hergemacht, mit roten Lippen und sorgfältig in Wellen gelegtem Haar. Und dennoch war Großmutter die Schönheit auf dem Bild, die die beiden anderen in den Schatten stellte. Mit ihrem hellen Haar, den langen Zöpfen und der zarten Haut ging von ihr ein ganz besonderer Zauber aus, eine Mischung aus schlaksiger Unschuld und Makellosigkeit, die durch das altmodische karierte Kleid, aus dem sie fast schon herausgewachsen war, noch betont wurde.Im Gästezimmer fand ich nichts Bemerkenswertes und landete schließlich
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