Herbstvergessene
Erna, nun etwas weicher: »Sie müssen das Ihrer Oma nachsehen. Dass sie darüber nicht sprechen wollte. Es war ja eine doppelte Belastung für sie. Unverheiratet schwanger zu werden, was glauben Sie, was das für eine Schande war damals!«
»Die Nazis haben jedenfalls eine erstaunlich lockere Einstellung demgegenüber gehabt. Sofern es sich um, wie nannten sie es, ›rassisch wertvolles‹ Blut handelte, was da weitervererbt werden sollte. Allein der Ausdruck!«, sagte ich bitter.
»Ja, die haben sich da schon eine Doppelmoral zusammengestrickt, die ihresgleichen sucht.«
Wir schwiegen ein wenig vor uns hin, jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Dann sagte ich in die Stille hinein: »Was mich eigentlich beschäftigt, ist, warum in dieser Geburtsurkunde kein Kindsvater eingetragen ist.«
»Soweit ich weiß«, sagte Erna vorsichtig, »galt in dieser Institution absolute Geheimhaltung, was die Kindsväter anging, und wohl auch, was die Daten der Mütter anbelangte.«
»Ja, das stimmt. Der Lebensborn hatte sogar eigene Standesämter, die für die Beurkundungen zuständig waren. Eine ledige Mutter war quasi, wenn sie es so wollte, raus aus der Welt und keiner, weder die Behörden in ihrer Heimatgemeinde und schon gar nicht ihre Familien, erhielt Bescheid über ihren weiteren Verbleib. Wenn eine Frau also aus ihrem alten Leben verschwinden wollte, konnte sie ohne Weiteres alle Brücken hinter sich abbrechen. Und gegen ihren Willen hätte niemand je erfahren, was aus ihr geworden ist. Es war gerade so, als hätte sie eine neue Identität erhalten …«
Erna hörte aufmerksam zu, dann fragte sie: »Was weiß man überhaupt von den Vätern? Was waren das für Männer?«
Ich zündete mir die nächste Zigarette an, Erna schenkte mir nach.
»Den typischen Lebensborn-Vater gibt es nicht«, murmelte ich und starrte in den Rauch meiner Zigarette. »Da war wohl alles vertreten, querbeet: der zeugungswütige Bonze, dem es um eine Demonstration seiner Männlichkeit ging; der überzeugte S S-Mann , der’s fürs Vaterland getan hat, der alternde Mann … bis hin zum Verweigerer, der jede Verantwortung der Mutter gegenüber ablehnte.« Ich verstummte abrupt und fragte mich plötzlich, zu welcher Kategorie mein Großvater wohl gehört hatte. Wer war das gewesen, wie hatte er geheißen? War es wirklich jener Paul, von dem Oma Charlotte erzählt hatte, ein Mal, ein einziges verdammtes Mal? Durch meine Lektüre wusste ich, dass der Lebensborn elf Heime in Deutschland, drei in Österreich und neun Heime in Norwegen betrieben hatte. In einigen anderen Ländern hatte es ebenfallsvereinzelt solche Häuser gegeben. Während die Kindsväter in Norwegen fast ausnahmslos Wehrmachtsangehörige waren, so waren die Väter der in deutschen Lebensborn-Heimen geborenen Kinder zum Großteil Angehörige der SS gewesen. War mein Großvater einer von ihnen? Und dann wusste ich plötzlich, was ich übersehen hatte. Der Verlag. Hatte die Frau nicht gesagt, sie hätten einen Teil des Manuskripts meiner Großmutter vorliegen? Sicher, fünfzig Seiten waren nicht viel. Aber vielleicht gab es auf diesen Seiten etwas, das zumindest einen Teil meiner Fragen beantworten konnte.
Wochen vergingen und Paul kehrte nicht zurück. Noch heute frage ich mich staunend, wie ich diese Zeit überhaupt überstehen konnte, diese verzweifelte Angst, die sich in jeder Zelle meines Körpers ansiedelte und alles auffraß: meine Lebensfreude, mein Lachen und die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen. In den ersten Tagen versuchte ich ständig, das Gespräch auf Paul zu bringen. Doch als ich feststellte, dass Leni und Stiefvater ebenso wenig wussten und vielleicht auch nicht mehr wissen wollten, versuchte ich über eine Klassenkameradin, deren Vater bei der Gestapo war, mehr in Erfahrung zu bringen. Doch all meine Nachforschungen liefen ins Leere. Und als wollte ich die Kraft unserer Liebe beschwören, trug ich in dieser Zeit den kleinen Herzstein, den Paul mir geschenkt hatte, immer und überall bei mir. Einzig das Bild des von Dämonen umzingelten Liebespaars hatte ich in den hintersten Winkel meines Zimmers verbannt.
Die Symptome meines Körpers wurden deutlicher, so deutlich, dass ich die Augen nicht mehr länger vor der Wahrheit verschließen konnte. Ich spielte mit dem Gedanken, zu einem Arzt zu gehen, doch ich kannte keinen, zu dem ich hätte Vertrauen haben können. Und so wartete ich einfach ab. In den Nächten schlief ich
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