Herbstvergessene
ignorieren.
Nie zuvor hatte ich grauere Tage und schwärzere Nächte erlebt, nie zuvor hatte ich je die Tiefe der Verzweiflung gespürt, zu derein Mensch fähig ist. In den Fängen der Angst um Paul schleppten sich die Stunden dahin. Erzählungen hinter vorgehaltener Hand fielen mir ein; über Menschen aus unserer Nachbarschaft, die das Falsche gesagt hatten und eines Tages einfach abgeholt worden waren. Und dass keiner sie je wiedergesehen hatte. Und in den Nächten starb ich tausend Tode. Hin und her schob ich die Gedanken, und als ich in der dunkelsten aller Nächte im Traum sich die braunen Fluten des Flusses über mir schließen fühlte, schoss von irgendwoher eine Vorstellung in mein Bewusstsein, eine flüchtige Idee zunächst, eine Möglichkeit. Die Möglichkeit, einen anderen als Vater beim Lebensborn anzugeben. Einen Mann, der den Ausleseprinzipien entsprach. Und der die Vaterschaft nicht bestreiten konnte. Und wer wäre besser geeignet als Vater eines Lebensbornkindes als ein S S-Obersturmbannführer namens Hans Wilhelm?
Der Wind zerrte an der Plastiküberdeckung der Stühle auf der Terrasse. Ich sah ihm zu und gähnte. Obwohl ich sieben oder acht Stunden geschlafen hatte, war ich nicht richtig ausgeruht. Vielleicht war es der Moosbeerenschnaps, vielleicht aber auch irgendein Gedanke, der mich im Traum belästigt und verfolgt hatte. Als ich spät am Vormittag mit zerschlagenen Gliedern und dröhnendem Kopf aufgewacht war, hatten meine vernebelten Gehirnzellen daher eine ganze Weile gebraucht, um den Einfall vom Vorabend wieder auszuspucken. Das Manuskript! Ich rief also zunächst beim Verlag an, erfuhr, dass die zuständige Dame in Urlaub war, und trug mein Anliegen einer anderen vor. Sie klang ungeduldig und desinteressiert, doch am Ende versprach sie, sich darum kümmern zu wollen. Dann machte ich mir Gedanken über den Tag. Um 13.30 Uhr hatte ich einen Notartermin, die Testamentseröffnung. Also blieb mir noch Zeit für ein ausgiebiges Frühstück.
Ich war schon immer ein begeisterter Morgenesser gewesen, jemand, der keine Mühe scheute, sich auch alleine einen schönen Tisch zu zaubern und einige Zeit daran zu sitzen, mit einer Zeitung oder einem Buch, massenhaft Kaffee oder Tee zu trinken und sich zum Abschluss eine Zigarette zu gönnen. Ich löste mir eine Aspirin C in Wasser auf, holte das Hohehorst-Buch, machte Frühstück und setzte mich, nun ohne Kopfschmerzen, an den Tisch und sah kauend dem Wind bei der Arbeit zu. Nach der dritten Tasse Tee zündete ich mir eine Zigarette an und kritzelte ein paar Notizen auf die leere Schachtel. Dann holte ich das Telefonbuch und wählte die Nummer der Auslandsauskunft.
»Guten Tag. Ich möchte gerne wissen, ob es in Husum, Deutschland, jemanden mit dem Namen Sartorius gibt.«
»Haben Sie einen Vornamen?«
»Nein.«
»Vielleicht eine Straße?«
»Der Name ist alles, was ich habe.«
Es blieb kurz still, dann sagte die Stimme: »Ich habe hier zwei Einträge. Eine Frau Sieglinde Sartorius … und einen Dr. Roman Sartorius.«
Mit einem Mal war ich hellwach. Ich notierte die Nummern, bedankte mich und drückte auf Aus. Eine Weile lang saß ich herum und kaute auf den Fingernägeln, immer noch den Hörer in der Hand. Konnte ich dort einfach anrufen? Bei Wildfremden und sie fragen – ja, wonach eigentlich? Ich hätte da ein Rätsel für Sie: Warum habe ich Ihren Nachnamen auf einem Stück Papier in der Wohnung meiner Mutter gefunden? Kurz kämpfte ich mit meinen Hemmungen und einem flauen Gefühl im Magen, aber dann schob ich meine Bedenken beiseite. Zuerst die Nummer der Frau, dachte ich. Frauen waren ja in der Regel zugänglicher als Männer, oder etwa nicht? Mit klopfendem Herzen lauschte ich auf das Tuten in der Leitung. Ich wartete. Nichts. Ich legte auf und wählte erneut. Als nach dem fünfzehnten Klingeln immer noch niemand abnahm, versuchte ich es mit der anderen Nummer. Doch auch hier meldete sich niemand. Ich stellte das Telefon zurück und trat ans Fenster. Im Grunde genommen war ich erleichtert. Dann würde ich es eben im Laufe des Tages noch einmal versuchen.
Wie zu erwarten gewesen war, gehörte jetzt alles mir. Auch Oma Charlottes Besitz, den sie an Mutter weitergegeben hatte. Obwohl ich es ja eigentlich hätte wissen müssen, war ich nun, wo es so weit war, erschlagen von der puren Menge an Eigentum und Geldwerten, die an mich übergingen. Es war mir finanziell nie schlecht gegangen, ich war immer zufrieden gewesen mit
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