Herbstvergessene
nicht mehr, und wenn ich doch in einen erschöpften Schlaf sank, so fuhr ich wenig später schweißgebadet wieder hoch, die brüllende Stimme meines Stiefvaters noch in den Ohren und die zum Schlag erhobene Hand. Die Geschichte eines Mädchens, die ich einmal gehört hatte, fiel mir ein und im Traum sah ich die Blicke der Menschen sie verfolgen und die Gespräche verstummen, wenn sie einen Raum betrat oder auf der Straße vorüberging.Und während ich das Mädchen gehen sah, war auf einmal ich die Gehende und die Menschen auf der Straße zeigten mit dem Finger auf mich.
An einer Straßenbahnhaltestelle sah ich das Plakat. Ich weiß noch, dass es zwei Worte waren, die meine Aufmerksamkeit fesselten: ledige Mütter. Ich drängte mich an einer Frau vorbei, sah, dass es sich um das
Schwarze Korps
handelte, die S S-Zeitung . Ich las:
Die Mutter aber, die sich trotz aller gesellschaftlichen Verlogenheit zu ihrem Kinde und damit zur Volksgemeinschaft bekennt, ist in unseren Augen wertvoller als die andere, die aus Furcht vor Schande oder aus Angst vor Vorwürfen, die aus dem Lager der Moralpächter kommen, abtreibt und damit ihr Leben aufs Spiel setzt und das ihres Kindes vernichtet.
Und weiter hieß es:
Die Heime tragen nicht etwa den Charakter eines Krankenhauses oder einer Entbindungsanstalt, sondern sind für die Mütter wirkliche Heimstätten im vollsten Sinne des Wortes.
Die Rede war, wie ich weiter unten erfuhr, von einem Verein, der sich
Lebensborn
nannte. Und der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, unverheirateten Schwangeren beizustehen, ihnen einen Ort für die Niederkunft zu bieten – und das, wenn man wollte, schon Monate vor der Geburt. Statt Huren oder Flittchen nannte man diese Frauen hier Pensionärinnen. Das Unglaubliche jedoch war, dass – so stand es hier – der Verein absolute Geheimhaltung garantierte. Man bekam das Kind an einem Ort, von dem keiner wusste. Es war geradezu wie eine Botschaft aus einem Traum, nicht aus meinem, sondern aus einem unwirklichen, der zu schön war, um wahr zu sein. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich alles daransetzen würde, in eines dieser Heime zu kommen.
Ich kritzelte die Adresse auf eine alte Fahrkarte, kaufte im nächsten Schreibwarenhandel Papier und eine halbe Stunde später saß ich in einem Café und schrieb einen Brief an den Lebensborn.
Eine knappe Woche später kam die Antwort. Ich hatte die Tage bis dahin in banger Erwartung verbracht und in der Befürchtung, jemand könnte den Brief abfangen und öffnen. Doch tatsächlichgelang es mir, an den Briefkasten zu kommen, bevor Mutter ihn leerte. Und als ich das Blatt Papier schließlich entfaltete, mit zitternden Fingern, und las, ließ ich es auch sogleich wieder sinken. Was war das für ein Wirrwarr an Vorschriften! Hier war die Rede von Ausleseverfahren und einer ärztlichen Untersuchung, einer rassischen Beurteilung, von einer Ahnentafel, die ich einreichen musste. Von einem Erbgesundheitsbogen, in dem ich Angaben über erbliche Belastungen in der Familie machen musste, und schließlich gab es da einen Fragebogen zur Person, in dem ich Auskunft geben sollte über meinen Beruf – ich hatte ja noch gar keinen –, über meine Krankenversicherung, über meine Parteizugehörigkeit. Und ganz am Schluss war noch die Rede von einem handgeschriebenen Lebenslauf, der von einem Ganzkörperfoto begleitet sein musste. Eine Prüfung auf Herz und Nieren, die die Mütter ablegen mussten.
Die Arbeit des Lebensborn setzt die Anwendung des strengen erbbiologischen Ausleseprinzips der Schutzstaffel voraus.
Was sollte denn das heißen? Und auf der nächsten Seite hielt ich verblüfft inne: Der Kindsvater musste nicht nur Gesundheits- und Erbgesundheitsatteste und Ariernachweis erbringen. Er musste dem Lebensborn gegenüber auch die Vaterschaft anerkennen.
Der Herbst blühte in den schönsten Farben, doch meine Verzweiflung wuchs im selben Maße, wie die Blätter fielen. Wieder suchte ich mein Spiegelbild in allen Schaufenstern, doch nicht, weil Eitelkeit und das Staunen über mich selbst mich dazu brachten. Diesmal war es die Angst vor der sichtbar werdenden Veränderung. Jeden Morgen und jeden Abend stand ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel, hob das Nachthemd an und stellte bald fest, dass sich mein Körper tatsächlich veränderte. Er rundete sich zusehends, meine Brüste schwollen an, meine Backen wurden voller und kurz vor Weihnachten konnte ich die Wölbung meines Bauches nicht mehr
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