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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Sartorius nicht ein zweites Mal angerufen hätte.
    »Guten Tag. Ich   … Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal belästige. Aber   …«
    »Ja, bitte. Sprechen Sie doch weiter.« Er klang so freundlich und offen. Konnte das echt sein?
    »Ich versuche immer noch, mehr über meine Familie zu erfahren. Aber ich habe das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken. Und da wollte ich Sie bitten   … Vielleicht könnten wir uns einmal unterhalten. Vielleicht gibt es irgendetwas   … eine Gemeinsamkeit, die wir im Gespräch entdecken, etwas, das mir weiterhelfen könnte.«
    Er reagierte nicht sofort und ich hatte das seltsame Gefühl, dass es ein misstrauisches und kein abwartendes Schweigen war. Als er noch immer nicht sprach, versuchte ich, meine Unsicherheit fortzuplappern: »Sie sagten doch, Sie seien demnächst in Wien. Vielleicht   … Wie gesagt, ich würde mich gerne einmal mit Ihnen unterhalten   …«
    Ich spürte, wie ich rot wurde, und war dankbar für den Sichtschutz, den mir das Telefon bot. Er würde doch wohl nicht annehmen, dass ich ihn   … Ich wurde noch röter.
    Endlich erlöste er mich, indem er sagte: »Ja, ja   … natürlich. Wir könnten uns schon treffen. Obwohl ich mir nicht recht vorstellen kann, wie ich Ihnen helfen könnte   … Und mein zeitlicher Rahmen ist ziemlich eng bemessen.«
    »Ich würde Sie nicht lange aufhalten   … Ich richte mich nach Ihnen. Sagen Sie mir, wann es Ihnen passt und wo, und ich werde da sein.«
    Guter Gott, dachte ich, ein übereifriges Kind, das jedem gefallen will. Als ob ich so was nötig hätte!
     
    Noch heute überfällt mich, wenn ich an meine hastigen, erleichterten Worte denke, eine heiße Scham, und wenn ich gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich ihn wahrscheinlich kein zweites Mal angerufen. Und mit Verwunderung frage ich mich, woher ich damals die Himmelshoffnung nahm, irgendwelche Erkenntnisse aus diesem Treffen mit einem Fremden zu gewinnen. Ich wollte mich mit einem Mann unterhalten, dessen Vater in einem vergilbten Zeitungsartikel erwähnt wurde, auf den ich rein zufällig gestoßen war und der in keinem erkennbaren Zusammenhang mit mir oder meiner Mutter stand.

 
    Es ist mir kaum möglich, in Worte zu fassen, was ich empfand, als ich Hohehorst das erste Mal sah. Wenn ich versuche, die Grandezza und Erhabenheit dieses Anwesens für andere sichtbar zu machen, wird es nur ein kläglicher Abklatsch dessen sein, was es in Wirklichkeit war. Hohehorst. Vom allerersten Blick an nahm mich der Ort gefangen. Vom allerersten Moment an spürte ich, wie ein Schaudern von mir Besitz ergriff, und weder mein Herz noch mein Verstand schienen die Morbidität und das Sonderbare, Unwirkliche fassen zu können, das diese Mauern ausstrahlten. Es war, als habe der Erbauer von Hohehorst den Tod besiegen wollen, als habe er eine Trutzburg gegen den Verfall errichten lassen.
    Als wir aus dem Wald tauchten und ich die grauen Mauern vor mir liegen sah, stockte mir der Atem. Ich war überwältigt und doch war mir, als schlösse sich eine eiskalte Hand um mein Herz. Wir näherten uns langsam, auf einer kiesbestreuten Auffahrt, entlang eines weiten Platzes mit kreisrunder Rasenfläche in der Mitte, auf der zwei Fahnenmasten mit Hakenkreuzen standen. Ich weiß noch, wie ich tief durchatmete und, um mein Herzklopfen einzudämmen, zu zählen begann: neunzehn Fenster auf der Frontseite, neun Gauben mit Dachfenstern, vier Kamine und einen Ausguck in Dachmitte. Herr Huber hielt vor einer Freitreppe mit vier Säulen aus hellem Sandstein. Eine kräftige Frau in der N S-Schwesterntracht trat heraus. Ich stieg aus dem Wagen. Sie kam auf mich zu. Mit einer energischen Bewegung streckte sie die Hand aus: »Heil Hitler! Und willkommen in Hohehorst. Ich bin Berta Meyer-Schmitz und Oberschwester in diesen ehrwürdigen Hallen.« Ihre Stimme war die eines Mannes.
    »Guten Tag.« Ich erwiderte ihren Händedruck.
    »Wie geht’s Ihnen? Die Reise gut überstanden? Ostpreußen ist ja nun kein Katzensprung, will ich mal sagen!« Sie wandte sich an Herrn Huber.
    »Würden Sie das Gepäck bitte auf Zimmer 2 bringen? Danke. Sie haben sich schon bekannt gemacht?«
    Ich nickte, vielleicht etwas zu zögerlich, denn Berta Meyer-Schmitz fuhr fort: »Herr Huber hier ist unser Verwalter. Er ist für alles Technische zuständig, die Anlagen, Heizung, Wasser, Abwasser, Licht, Alarmanlagen, Fuhrpark. Auch für das Küchen- und Haushaltspersonal. Und hin und wieder fungiert er auch als

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