Herbstvergessene
»Tatsache ist, dass ich bei den Unterlagen meiner Mutter diesen alten Zeitungsausschnitt gefunden habe. Und ich frage mich nun, woher meine Mutter diesen Artikel hatte und was sie bewogen haben könnte, ihn aufzubewahren.«
Er sagte nichts, betrachtete mich immer noch mit diesem Blick, in dem zugleich Aufmerksamkeit und etwas anderes, Fremdes lag. Und plötzlich fragte ich mich, ob er mich für überspannt hielt. Schließlich wusste er nichts von den anderen Dingen, die ich gefunden hatte. Und die ich verzweifelt zu einem Bild anzuordnen versuchte. Hastig redete ich weiter: »Es mag Ihnen … seltsam erscheinen, ich meine, dass ich Sie nur wegen eines Zeitungsartikels, der noch dazu uralt ist, angerufen und um ein Treffen gebeten habe … Aber bevor ich wieder in meinen Alltag zurückkehren kann, muss ich einfach ein paar Dinge klären.«
Ich schnippte die Asche in einen gläsernen Aschenbecher und hoffte, dass meine Bewegungen nicht allzu fahrig waren. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, was er von mir dachte. Ich sah, wie er einen Schluck von seinem Wasser nahm, registrierte seine schlanken und zugleich kräftigen Finger mit den gepflegten Nägeln. Am kleinen Finger hatte er eine weiße Narbe.
»Und wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich zog ein letztes Mal an meiner Zigarette und drückte sie mit mehr Nachdruck aus als nötig. »Ich hatte einfach gehofft, Sie könnten mir etwas über Ihren Vater erzählen … irgendwas …«
In seinen Augen erschien ein Ausdruck, den ich nicht recht deuten konnte. War es Vorsicht oder einfach eine natürliche Zurückhaltung – das Bedürfnis, private Angelegenheiten nicht vor einer völlig Fremden auszubreiten?
»Ich weiß wirklich nicht …«, setzte er zu sprechen an, doch er verstummte sofort wieder. Ich machte mich wieder an meiner Packung zu schaffen. Er hob eine Augenbraue, ich zündete mir trotzdem die nächste an und sagte gedämpft: »Ich frage mich einfach, warum sie diesen Artikel aufgehoben hat. Es muss doch einen Grund geben.«
»Vielleicht steckt auch gar nichts weiter dahinter. Ich kenne Leute, die alle möglichen Sachen aufbewahren: Bierdeckel, alte Eintrittskarten, es soll auch welche geben, die Artikel über alte Kriminalfälle sammeln.«
Er lehnte sich zurück und sah mich an. Auf einmal hatte ich das Gefühl, von seinem Blick festgehalten zu werden. Ich kniff die Augen zusammen und hustete. »Da mögen Sie recht haben. Es ist nur so, dass es der einzige Artikel dieser Art war. Und dass ich ihn in einer Pastillenschachtel in ihrem Nachttisch gefunden habe.«
Mein Husten ging in ein Hüsteln über, das Hüsteln in ein Räuspern. Auf einmal klangen meine Worte skurril und einfältig und sein Schweigen ließ in mir ein Gefühl aufsteigen, als litte ich an Wahnvorstellungen. Er winkte dem Kellner und im ersten Moment dachte ich, er habe genug und wolle gehen. Doch er bestellte einen Braunen und sagte dann: »Es sieht so aus, als würde ich doch nicht ohne Koffein hier herauskommen.« Dann richtete er sich auf, lockerte die Schultern, als habe er Verspannungen, blickte an die Decke und seufzte.
»Mein Vater ist an einem Tag im März 1950, es war der 25.,von zu Hause aufgebrochen. Und nie wieder zurückgekehrt. Ich war damals gerade erst ein halbes Jahr alt, meine Schwester war dreizehn, mein Bruder – er ist inzwischen verstorben – war zu dem Zeitpunkt sechzehn Jahre alt. Alles, was ich von damals weiß, hat meine Mutter mir erzählt, später, als ich älter war und zu fragen begann. Sie hat das nie ganz verwunden und hat auch nie mehr geheiratet. Im Grunde verbrachte sie ihr restliches Leben damit, auf ihn zu warten. Zu hoffen und zu warten. Finanziell ging es uns immer gut, meine Mutter stammte aus einer wohlhabenden Familie. Ich glaube, das kann sich keiner, auch wenn er es noch so sehr versucht, vorstellen. Wie das ist, wenn der Partner einfach verschwindet. Sich in Luft auflöst. Als habe es ihn nie gegeben.«
Der Braune kam und Roman Sartorius verstummte. Er blickte in seine Tasse, als suche er dort die Antwort auf die Frage, die seine ganze Kindheit bestimmt hatte. Dann trank er den bitteren Kaffee, ohne Zucker, verzog das Gesicht und fuhr fort, ohne mich anzusehen: »Ich habe oft darüber nachgedacht, früher, und manchmal tue ich es auch heute noch, welche Phasen man durchlebt in so einem Fall. Zuerst die Unruhe, wenn er abends nicht wie gewohnt zur Tür hereinkommt. Wenn die Stunden vergehen und die Furcht von einem Besitz zu
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