Herbstvergessene
alles nur so weit kommen können? Und in diesem Moment erkannte ich mit einer gläsernen Klarheit, was ich getan hatte, und dass Paul, mein geliebter Paul, weit fort von mir in irgendeinem Gefängnis saß. Und dass ich ihn wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde.
Roman Sartorius war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Er war nicht sonderlich groß, vielleicht so groß wie ich selbst. Er hatte ebenmäßige Gesichtszüge, ein markantes Kinn, eine scharf geschnittene Nase und sein blondes Haar war dicht und kurz geschnitten, aber nicht zu kurz. Das bemerkenswerteste an ihm waren seine Augen. Sie waren von einem auffälligen Blau, das ins Violette spielte, und sie blickten ruhig und gewiss. Ich hatte das Gefühl, dass diese Augen nur schwer aus der Ruhe gebracht werden konnten.
Schon als er die Tür öffnete und den roten Samtvorhang beiseiteschob, der sie halb verdeckte, wusste ich, dass
er
es sein musste. Obwohl ich aus irgendeinem Grund einen deutlich älteren Mann erwartet hatte. Der Mann, der jetzt auf mich zukam, sah jedoch aus wie höchstens fünfzig. Sein schlanker Körper wirkte durchtrainiert und steckte in einem dunklen Anzug, dessen Farbe irgendwo zwischen Grau und Blau angesiedelt war. Der Mantel, den er offen darüber trug, war dunkelbraun.
Er war vor meinem Tisch stehen geblieben, mit hochgezogenen Augenbrauen, die ihm etwas Überhebliches verliehen; doch dieser Ausdruck verschwand mit dem Senken der Augenbrauen und machte einem ruhigen Lächeln Platz. Er reichte mir die Hand, ich rückte einen Stuhl ab und sagte: »Bitte.« Ich bemerkte die Blicke der beiden Frauen am Nebentisch. Sie waren etwa in meinem Alter und musterten Roman Sartorius unverhohlen, beobachteten ihn, wie er aus dem Mantel schlüpfte. Von seinen Schultern und den Ärmeln perlten Wassertropfen und ein Hauch von feuchter Wolle und Rasierwasser wehte zumir herüber, während er an mir vorbei zur Garderobe ging. Er zog sich den Stuhl heran und sagte: »Gestatten«, ein Wort, das in meinen Ohren seltsam anachronistisch klang, aber gut zu dieser Kaffeehausatmosphäre passte. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich flüchtig, dass die beiden Neugierigen am Nebentisch ihre Blicke nun auf mich richteten. Offensichtlich fragten sie sich, was so ein toller Business-Typ mit einer Frau wollte, die
vom Stil her
so gar nicht zu ihm passte: mit diesem nachlässig hochgesteckten Haar, dem breiten Mund und dem unspektakulären Wollpullover. Ich musterte die beiden möglichst herablassend, fingerte an meiner Zigarettenpackung herum und sagte dann: »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen … für ein Treffen.«
Er nickte, der Ober im schwarzen Anzug kam und er bestellte ein Wasser. Roman Sartorius schien mein überraschter Blick nicht entgangen zu sein, denn er lächelte und sagte: »Ich habe heute schon vier Tassen Kaffee hinter mir.«
Ich lächelte zurück, nervös, wich seinem Blick aus und sagte etwas zu hastig: »Mein Wunsch mag Ihnen seltsam erscheinen. Und eigentlich weiß ich selbst nicht recht, was ich herausfinden möchte …«
Ich klopfte eine Zigarette aus der Packung und fragte: »Stört es Sie?« Als er den Kopf schüttelte und mir mit einem Streichholzbriefchen, das auf dem Tisch herumlag, Feuer gab, nuschelte ich mit der Zigarette zwischen den Lippen: »Ich würde Ihnen ja eine anbieten. Aber Sie sehen nicht so aus, als würden Sie rauchen.«
»Wie sehe ich denn aus?«, fragte er.
Ich sah das humorvolle Blitzen in seinen Augen und entgegnete: »Nach Sport. Und nach …«, ich legte eine Pause ein, der Dramatik halber, und sagte dann: »Salat, Obst und Gemüse.«
Jetzt lachte er. »Das soll man tatsächlich essen können!«
Ich wedelte abwehrend mit der Zigarette in der Luft herum, musste aber auch lachen. Doch schlagartig wurde ich wieder ernst.
»Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Meine Mutter ist keines natürlichen Todes gestorben. Die Polizei geht davon aus, dass sie … nun ja … dass sie von der Terrasse Ihrer Wohnung gesprungen ist.«
»Sie hat sich umgebracht?«
» Die Polizei
meint das. Und vielleicht stimmt es ja tatsächlich.«
»Sie haben Zweifel?«
Ich zuckte die Achseln. Ich wollte nicht zu viel preisgeben. Betont flapsig verzog ich das Gesicht und sagte: »Ach, ich weiß auch nicht. Woran zweifle ich, woran nicht? Ich … bin auf der Suche … nach irgendetwas.« Ich räusperte mich, straffte die Schultern und sah nachdenklich dem Rauch nach.
Weitere Kostenlose Bücher