Herbstvergessene
»Sartorius.«
Die Stimme des männlichen Sartorius war, was Gefälligkeit anging, umgekehrt proportional zur schnarrenden Stimme der Frau mit dem gleichen Namen.
»Guten Tag. Ich heiße Maja Sternberg. Wir kennen uns nicht und der Grund meines Anrufs dürfte ein eher ungewöhnlicher sein. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?« Wolf hätte das nicht besser machen können.
»Guten Tag, ja bitte, sprechen Sie«, sagte der Mann höflich. In seiner Stimme hatte kein Zögern gelegen. Im Gegenteil, er klang offen, vielleicht sogar ein kleines bisschen neugierig. Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens dachte ich daran, wie schnell und kühl ich selbst unbekannte Anrufer meist abfertigte.
»Meine Mutter, die in Wien lebte …«
»Ach, in Wien?«, unterbrach er mich. »Da werde ich demnächst sein. Aber entschuldigen Sie, ich bin Ihnen ins Wort gefallen.«
»Ja, ähm, meine Mutter ist kürzlich verstorben und ich habe beim Durchsehen ihrer Sachen etwas gefunden, mit dem ich nichts anfangen kann … Das ist vielleicht ein seltsamer Grund, Sie zu belästigen, aber …«
»Sie belästigen mich nicht«, sagte er schlicht. Und dann: »Was haben Sie denn nun gefunden, was Sie dermaßen beschäftigt?«
»Einen alten Zeitungsartikel, in dem von einem gewissen Dr. Heinrich Sartorius aus Husum die Rede ist.«
Kurz blieb es still in der Leitung, dann seufzte er. »Ach, und nun möchten Sie wissen, ob ich ihn kenne, diesen Herrn Sartorius?«
»Ja.«
»Aber warum interessiert Sie das – so eine alte Geschichte?«
Ohne auf seine Frage einzugehen, wiederholte ich: »Kannten Sie ihn denn?«
Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Dann seufzte er erneut und sagte: »Ich weiß zwar nicht, warum ich Ihnen das am Telefon sage, aber: Ja. Heinrich Sartorius war mein Vater.«
»War?«
»Ja. Eines Tages ist er einfach verschwunden. Bis heute wissen wir nicht, was aus ihm geworden ist.«
Dämonen
Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, als ich im Dunkeln ein letztes Mal über den Kneiphof ging, unter den Bäumen am Pregel entlang in Richtung Hauptbahnhof, durch die Straßen einer noch schlafenden Stadt. Ob ich ahnte, dass es ein Abschied für immer sein würde? Und so hielt an jenem frühen Morgen das Gewicht meiner Tasche, die ich mit äußerster Kraftanstrengung die zwei Kilometer bis zum Bahnhof schleppte, die Unruhe und Angst im Zaum. Und hätte ich damals schon gewusst, dass meine Heimatstadt Königsberg und die weiten und endlos wogenden Meere aus Korn, die kristallenen Seen und die dunklen Wälder Ostpreußens für mich für immer verloren waren, hätte es mir das Herz zerrissen. Doch da ich von all der Tragik nichts wusste, konzentrierte ich mich an jenem Morgen auf mein eigenes Drama, die Reisetasche, den Schaffner, der mich so bohrend ansah, dass mir das Herz bis zum Hals schlug, das gellende Pfeifen zur Abfahrt und die Mitreisenden, die vor sich hin dösend in ihren Sitzen kauerten.
Die Gegenwart ist ein uns beschützender Panzer und die alltäglichen Probleme, mit denen ein jeder von uns zu tun hat, lenken uns ab und nehmen einen Teil der Melancholie fort, die uns ansonsten überwältigen würde. Und so lauschte auch ich dem einschläfernden Rattattam der Räder und schaute hinaus in die langsam einsetzende Dämmerung des Februarmorgens. Mit gemischten Gefühlen dachte ich an meinen Fortgang von zu Hause und an die ungewisse Zeit, die vor mir lag. Einerseits war ich erleichtert und spürte sogar so etwas wie Dankbarkeit dem Leben gegenüber, dass mein Geniestreich gelungen war, Hans Wilhelm, den toten Ehemann meiner Schwester, als Kindsvater beim Lebensborn anzugeben. Dass ich die rassische Beurteilung erfolgreichhinter mich gebracht hatte, dass es mir gelungen war, ohne Wissen meiner Mutter und meines Stiefvaters die kleine Ahnentafel beizubringen, und dass mir der Arzt, der mir vom Lebensborn als Ansprechpartner genannt worden war, bestätigt hatte, »erbgesund« zu sein. Natürlich wusste ich nicht, was ich tun würde, wenn das Kind auf der Welt wäre. In gewissem Sinne fühlte ich mich doch selbst noch wie eines. Aber wie so viele Menschen damals verschob ich die Lösung meines Problems auf die ferne Zeit nach dem Krieg. Wenn erst einmal der Krieg zu Ende wäre, würde sich alles in Wohlgefallen auflösen.
Der Mann, der, an einen Wagen gelehnt, wartete, stieß sich ab und kam langsam auf mich zu. Er zögerte nicht, schien mich sofort zu erkennen, was kein Wunder war, da außer mir nur eine
Weitere Kostenlose Bücher