Herbstvergessene
alte Dame und zwei Jungen in H J-Uniform den Zug verließen. Er nickte mir zu und fragte: »Fräulein Quandt?« Ich nickte zurück.
»Huber mein Name. Ich bin der Verwalter in Hohehorst. Ich soll Sie abholen.« Der Mann hatte einen starken bayrischen Akzent.
Er griff nach meiner Reisetasche, schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf: »Na, na, denken S’ doch an Ihr Kind. Was haben S’ denn da hineingetan, Wackersteine?« Und während er vor mir her zum Wagen ging, lachte er polternd.
Er hielt mir die Beifahrertür auf, wartete, bis ich eingestiegen war, knallte die Wagentür zu und ging nach vorne, wo er an der Kurbel drehte und den Wagen startete. Ich betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Er musste um die vierzig sein, hatte ein breites Gesicht, ein kantiges Kinn und braunes, von einigen grauen Fäden durchzogenes lockiges Haar. Seine Handrücken waren behaart und lagen auf dem Lenkrad wie die Pranken eines Tieres.
Weiden mit Holsteinischen Kühen, gesäumt von Erlensträuchern und alten Eichen, glitten vorüber, ein Bauernhaus aus rotem Backstein mit Fachwerkbalken. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Hinter einer Kurve erschienen unvermittelt zwei weiße Häuser, zwischen sich ein breites, mit Spießen bewehrtes Eisentor. Herr Huber bremste, bog von der Straße ab und hielt.
»Da wären wir«, bellte er und grinste mich schräg von der Seite an. »In dem rechten wohne ich. Und in dem linken Sie.«
Ich verstand nicht, und als er meinen verdutzten Gesichtsausdruck sah, der sicher nur zu deutlich mein Unbehagen widerspiegelte, lachte er laut auf.
»Nichts für ungut, Madel!« Vor lauter Lachen kamen ihm die Tränen und er brachte die Worte kaum heraus. Dann öffnete sich wie von Zauberhand das Tor, er startete den Motor und passierte das Tor. Wir fuhren zuckelnd in einen Wald hinein, eine breite Allee aus jungen Bäumen entlang, und während ich zusah, wie sich das Tor hinter uns ebenso geräuschlos schloss, wie es sich zuvor geöffnet hatte, stieg in mir das Gefühl auf, eingesperrt zu sein.
Die Überführung der Asche nach Deutschland war letztlich weniger kompliziert gewesen als gedacht. Die Beisetzung war schlicht und ich war seltsam unbeteiligt, als ich auf dem Friedhof stand, den Blick auf das Grab gerichtet. Ich fühlte mich wie die beiden kleinen Kinder, die bei Oma Charlottes Beerdigung eine Reihe hinter mir gestanden hatten. »Wo is denn nu die Oma?«, hatte das eine, ein kleines bezopftes, vielleicht dreijähriges Ding gefragt. Und der Bruder, mit seinen fünf Jahren schon der Ältere und Erfahrenere, hatte geantwortet: »Na, da vorne, in der Kiste.«
Bei Oma Charlottes Beerdigung war es auch gewesen, dass Mutter zu mir gesagt hatte: »Wenn’s bei mir mal so weit ist, dann will ich verbrannt werden.« Irgendwann in diesen Tagen war mir dieser Wunsch wieder eingefallen und ich war ihm gefolgt. Auch wenn die Vorstellung irgendwie grotesk war: Mutters Überreste in einem Behälter. Diese Urne hatte für mich nichts zu tun mit dem Menschen, den ich gekannt hatte. Vielmehr war und blieb sie ein völlig fremder, sinnloser Gegenstand. Und so empfand ich in diesem Moment überhaupt keine Trauer. Kein Bedauern, keine Wehmut. In mir herrschte die ganze Zeremonie über eine große Leere. Und dieses Vakuum hielt an, nachdem ich wieder nach Hause gekommen war, und wich auch am nächsten Tag nicht.
Wolf betrachtete mich mit, wie ich meinte, distanziertem Ernst, und hielt sich im Hintergrund. Wahrscheinlich wollte er mir Zeit geben, so jedenfalls kam es mir vor, trotzdem wunderte ich mich ein wenig. Über seine fehlenden Worte, über seine Zurückhaltung, über seine Gleichgültigkeit. Vielleichtwar das mit ein Grund, warum ich nicht mit ihm sprach. Und da ich ohnehin dazu tendierte, das meiste mit mir selbst auszumachen, verschloss ich alles in mir. So erklärte ich Wolf auch nicht weiter, warum ich jetzt – so kurz vor Weihnachten – noch einmal nach Wien wollte. Er muss in diesen Tagen gemerkt haben, dass ich dabei war, einen Weg einzuschlagen, auf dem er mich nicht begleiten konnte. Ihm gegenüber hatte ich weder die Briefe erwähnt, die ich an den Frankfurter Anwalt und an die Autorin des Lebensborn-Buches geschrieben hatte, und auch von meinen Anrufen bei den beiden Sartorius hatte ich nichts erzählt. Also war es nur logisch, dass er auch von meiner Verabredung mit Roman Sartorius nichts wusste.
Noch heute frage ich mich manchmal, wie alles gekommen wäre, wenn ich Roman
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