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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Standesbeamter. Na, dann wollen wir mal.«
    Sie stemmte die prunkvolle Eingangstür auf und bog sofort links ab in eine Art Anmeldung, die noch außerhalb des eigentlichen Empfangsbereichs lag. Ein paar Akten lagen herum und eine junge Frau hörte bei unserem Eintreten auf, auf eine Schreibmaschine einzuhacken.
    »Das ist Frau Käthe«, sagte die Oberschwester zu mir gewandt. »Und das unser neues Frollein aus Ostpreußen. Die mit Frau Elfriede das Zimmer teilen wird.« Artig gaben wir einander die Hände, die beiden Frauen sahen sich an und auf einmal kam es mir so vor, als läge in diesem Blickwechsel eine versteckte Botschaft. Über die Schulter hinweg sagte Schwester Berta im Hinausgehen: »Bereiten Sie die Formulare vor? Wir drehen eine Runde durchs Haus und kommen dann noch mal vorbei.«
    Von diesem kleinen Vorposten aus führten weitere Stufen zur eigentlichen Eingangstür. Plötzlich standen wir in einer Halle, die so groß war, dass man darin hätte Völkerball spielen können. Ein paar junge Frauen saßen in Sesseln am Fenster, und während wir auf sie zugingen, fühlte ich ihre Blicke wie Gewichte auf mir. Mit unverhohlener Neugier sahen sie mir entgegen. Vielleicht wurde hier ja jeder Neuankömmling so direkt beguckt, dachte ich noch, während wir die Halle verließen.
     
    Es gab diverse Treppen, die die vier Etagen miteinander verbanden. Im Keller lagen die Wirtschaftsräume. Schwester Berta öffneteTür um Tür und ließ mich einen Blick in Küche und Spülküche werfen, in Kühlraum und Bäder, in Waschküche und Wärmeschrank. Je mehr sie mir zeigte, desto verlorener fühlte ich mich. In einem Raum mit zahllosen Handrädern an der Wand sagte sie, ohne mich aus den Augen zu lassen: »Ihre Zimmergenossin ist, wie gesagt, Frau Elfriede. Wir sprechen die Pensionärinnen übrigens alle mit dem Vornamen an   …«
    Ich nickte unsicher. Wir setzten uns wieder in Bewegung und Schwester Berta sprach weiter, doch ihre Worte drangen nicht mehr zu mir durch. Ich dachte an mein Zuhause. An Mutter. Was hatte sie wohl gesagt oder gedacht, als sie das leere Bett, das verlassene Zimmer vorgefunden hatte? Ich war gegangen, einfach so gegangen, ohne Erklärung, und hatte alles hinter mir zurückgelassen. Leni, die ich betrogen hatte. Und Paul. Paul. Was war mit ihm geschehen? Würde er je wieder freikommen? Und wenn ja, dann würde er die Spur zur mir – und zu seinem Kind – wohl trotzdem niemals finden. Und auch ich würde es nie erfahren, wenn er zurückkehrte.
    »…   sind Sie denn so blass?« Schwester Berta war stehen geblieben und musterte mich. »Nu machen Sie sich mal nicht so viele Gedanken. Das wird schon alles. Und hier ist Ihr Zimmer. Alle Mütter sind, wie gesagt, zu zweit untergebracht. Die Kleinen sind übrigens im Säuglingszimmer, die älteren Kinder   …«
    Die Tür wurde aufgerissen und eine Frau, vielleicht Mitte, vielleicht Ende dreißig, erschien im Türrahmen. Sie war blass, ihr Gesicht teigig, die Haut großporig. Und sie schien kurz vor der Geburt zu stehen, denn in Körpermitte kragte ihr Leib so weit nach vorne, dass es beinahe grotesk wirkte. Die Karikatur einer Hochschwangeren. Ein aus den Fluten auftauchendes Schlachtschiff, dachte ich. Ihre wasserblauen Augen huschten zu mir und wieder zurück zu Oberschwester Berta.
    »Ich habe Ihnen meinen Wunsch doch unmissverständlich mitgeteilt.« Ein leidender, nörgelnder Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Oberschwester Berta atmete hörbar ein und wieder aus und sagte dann knapp: »Liebe Frau Elfriede, ich kann IhremWunsch nicht nachkommen, und das wissen Sie auch. Hier gelten für alle dieselben Regeln. Und außerdem sollten Sie die Beine hochlegen. Sie wissen, was Dr.   Sartorius gesagt hat. Pardon.«
    Oberschwester Berta betrat das Zimmer und steuerte das Bett links an, vor dem bereits meine Reisetasche stand. Es war ein sehr geräumiges Zimmer, groß und luftig, mit mehr als genügend Platz für zwei Betten und zwei Tische.
    Ich wandte mich der Frau zu, streckte die Hand aus, rang mir ein Lächeln ab, das sicher reichlich verzagt aussah, und sagte: »Guten Tag, Frau Elfriede, ich bin   …«
    »Edelmann«, zischte es aus dem kleinen roten Mund und die verwaschenen Augen blitzten plötzlich hellwach und biestig. »Für Sie Frau Edelmann   …«
    Ich wandte mich ab. Eine Welle von Übelkeit erfasste mich. Wie sollte ich es hier aushalten, mit dieser Frau, in dieser Fremde, in diesem prunkvollen und absonderlichen Umfeld. Wie hatte

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