Herbstvergessene
Treppenhaus ging ich vorbei an Ernas Wohnungstür, für einen Moment versucht, bei ihr zu klingeln und mich zu ihr zu setzen, auf einen kleinen Schwatz oder einfach auf ein Glas. Doch dann beschloss ich, erst einmal meine Einkäufe nach oben zu verfrachten. Während ich die Treppen hochkeuchte, meldete sich mein schlechtes Gewissen und ich fragte mich, obsich meine körperliche Verfassung wohl bessern würde, wenn ich mit dem Rauchen aufhörte. Flüchtig dachte ich daran, dass so eine Zäsur, wie sie gerade in meinem Leben stattgefunden hatte, den idealen Anstoß bieten würde für einen Neubeginn. Erst recht angesichts der Tatsache, dass meine Mutter, die wie ich leidenschaftliche Raucherin gewesen war, an Lungenkrebs gelitten hatte. Ich war fast ganz oben angelangt, als ich hörte, wie jemand – vor Mutters Wohnung – die Fahrstuhltür ins Schloss zog, mit einem charakteristischen Klappern, das dem Zuschnappen einer Falle ähnelte. Im ersten Moment wusste ich nicht, was verkehrt daran war. Ich blieb stehen, lauschte. Ja, der Aufzug hatte sich in Bewegung gesetzt, jemand fuhr nach unten. Ich wagte kaum zu atmen, so angestrengt lauschte ich dem Geräusch nach, wie es leiser wurde, wie dieser Jemand unten, im Erdgeschoss, den Eisenkäfig öffnete. Und wie kurz darauf die Haustür ins Schloss fiel. Und dann wusste ich, was nicht passte: Ganz oben lag nur die Wohnung meiner Mutter.
Ich brauchte eine Weile, um das Gefühl der Beklemmung, ja, der Furcht zu verdrängen. Ich ging ein paarmal vor der Wohnungstür auf und ab und überlegte, wer einen Grund dafür haben konnte, hier heraufzukommen. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es nur der Hausmeister gewesen sein konnte. Vielleicht hatte er eine Glühbirne ausgewechselt. Oder einfach nur nach dem Rechten gesehen.
Beim Betreten der Wohnung hielt ich einen Moment lang inne. Ich stand da, eine Hand schon halb erhoben, um den Lichtschalter zu drücken, als ich plötzlich etwas Fremdes, etwas Bedrohliches zu spüren glaubte. In diesem Augenblick, auf der Türschwelle, war ich mir jedenfalls sicher, einen Geruch wahrzunehmen, der nicht hierher gehörte. Eine Minute, vielleicht waren es auch mehrere, stand ich dort wie benommen, mit halb offenem Mund, und atmete lautlos in der Stille, überzeugt davon, dass etwas anders war. Und auf einmal spürte ich, wie die Furcht zurückkehrte und sich zu einer klebrigen, zähen Angst auswuchs, die mich zu überwältigen drohte.Ich begann zu zittern, dort in der Tür, und konnte mich nicht überwinden, die Wohnung zu betreten. Etwas, vielleicht waren es ja nur die eigenen Schreckgespenster, hinderte mich daran, den Lichtschalter zu drücken, die Tür zu schließen und hineinzugehen.
Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, drehte ich mich abrupt um, schlug die Tür zu, rannte nach unten zu Erna und klingelte und klingelte. Doch Erna war nicht da. Und so blieb ich vor ihrer Tür stehen, allein mit meiner Angst, die so irrational und widersinnig erschien und doch so groß und übermächtig war, dass es noch zwei Stunden dauern sollte, bis ich mich zurück in die Wohnung traute, die mich mit Gleichgültigkeit und Neutralität empfing, als wollte sie mich Lügen strafen.
Auf Mutters Rautenschränkchen stand das Telefon und blinkte. Es zeigte drei Anrufe in Abwesenheit an. Ich stellte meine Einkäufe ab, zog den Mantel aus, hängte ihn auf den Bügel und drückte die Taste, um die Nachrichten abzuhören. Die erste war von Wolf, der ein wenig zerknautscht klang (anscheinend tat es ihm leid, dass unser Telefonat so unglücklich verlaufen war). Die beiden anderen Teilnehmer hatten keine Nachricht hinterlassen, sie hatten nur die Ansage einer Toten abgehört und dann wieder aufgelegt. Ihre ID wurde nicht angezeigt. Ich setzte mich wieder an Mutters Schreibtisch und überlegte, ob ich heute noch etwas Sinnvolles tun konnte. Gegessen hatte ich bereits, auf dem Weihnachtsmarkt. An einem Stand hatte ich ein Vinschgauer Brötchen mit Räucherschinken verzehrt und im Weitergehen kauend die Würste und Schinken in der Auslage betrachtet. Jetzt war ich durstig. Ich holte Wasser und trank drei Gläser hintereinander.
Zum Lesen hatte ich keine Lust, zum Fernsehen schon gar nicht. Da fiel mein Blick auf den Zettel mit den beiden Telefonnummern, und ehe ich recht darüber nachdenken konnte, wie ich das Gespräch beginnen sollte, hielt ich bereits das Telefonin Händen und wählte. Nach dem zweiten Klingeln sagte jemand, ein Mann:
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