Herbstvergessene
gänzlich ungeeignet war, hatte der Lebensborn auch hier Abhilfe geschaffen und Deckadressen geschaffen. In München und Garmisch zum Beispiel gab es Adressen von Lebensborn-Mitarbeitern, die die Post weiterbeförderten. In den letzten Jahren, so las ich lange nach Kriegsende, hatte der Verein sogar drei zusätzliche polizeiliche Meldestellen in Berlin, München und Wien geschaffen. Im Klartext bedeutete das: Die Frauen waren für Verwandte und Bekannte nicht mehr auffindbar, wenn sie es wollten. Auch für die Behörden und die Polizei war es nicht ohne Weiteres möglich, die Frauen ausfindig zu machen. Offiziell waren sie einfach »verschwunden«. Und deshalb wunderte ich mich auch ein wenig, aber nicht zu sehr, als Hanna mir erzählte, sie sei aus Bremen, das ja nun wirklich nur einen Katzensprung von Hohehorst entfernt lag. Wieso hatte man bei ihr mit der allgemein gültigen Praxis gebrochen?
Als Hanna zur Tür hereinwehte, wurde alles anders. Schon mit dem ersten Lachen, breit und lustig, vertrieb sie den muffigen und bösartigen Geist der Elfriede Edelmann. Hanna war hübsch, mit honigblondem Haar, roten Lippen und blass geschminktem Gesicht, ganz so, wie es der Mode entsprach. Sie trug ein feines Kostüm mit Pelzkragen und Handschuhe aus weichem Leder. Das Feinste an ihr aber waren die Schuhe, ich sollte vielleicht lieber sagen Schuhchen. Spitz und zierlich, mit Perlen bestickt, als ginge sie zum Tanz. Sie folgte meinem Blick und lächelte frech: »Zu etwas muss es ja gut sein, wenn man den ganzen Tag im Schuhladen herumsteht.« Und als sie sah, dass ich nicht recht verstand, lachte sie noch breiter und trällerte: »Mein Mädel ist nur … eine Verkäuferin … in einem Schuhgeschäft …«
Hanna, Verkäuferin in einem Schuhgeschäft in Bremen, brachte Farbe und Lachen in mein Leben. Vom ersten Moment an war sie mir vertraut, sie erinnerte mich an jemanden, aber ich wusste nicht, an wen. Hanna besaß die größte und eindrucksvollste Schuhsammlung, die ich je gesehen hatte. Da gab es – neben den Perlenschuhchen – ein Paar dunkelrote Schnürstiefelchen aus Leder und Samt. Im Zimmer trug sie orientalisch anmutende, cremeweiße bestickte Pantoffeln, die einer Haremsdame zur Ehre gereicht hätten. Und wenn wir spazieren gingen im Park, dann trug sie Schnürschuhe aus dickem braunem Leder, die sie vor und nach dem Spaziergang auf Hochglanz polierte.
Auf jeden Fall hatte Hanna die Vorschriften, was an Kleidern mitzubringen sei, schlichtweg ignoriert. Und unterlief damit das Bestreben des Lebensborn, dass alle Mütter gleich sein sollten. In der Anfangszeit des Heims hatte man, so erzählte mir Oberschwester Berta, eine Art Heimkleidung einzuführen versucht. Doch die Frauen hatten dadurch wie Sträflinge gewirkt und so hatte man diese Kleidervorschriften aufgegeben und den künftigen Pensionärinnen lediglich eine Liste mit Dingen übermittelt, die sie mitzubringen hätten. An Bekleidung war das Unterwäsche, zwei bis drei Kleider, ein Paar Haus- und ein Paar Ausgehschuhe. Mir entging nicht, dass sowohl Oberschwester Berta als auch ein paarandere Frauen Hanna schiefe Blicke zuwarfen. Wer hätte sie auch übersehen können in ihrem roten Mantel mit Pelzkragen, in ihrem meergrünen Hängekleid mit Samtschleife und Perlmuttknöpfen?
Mit Hanna wurde das Leben bunt. Auf einmal war ich wieder unbeschwert und fühlte mich zuweilen wie das Schulmädchen, das ich einmal gewesen war, sorglos und fast frei. Hannas Gegenwart lenkte mich ab und irgendwie gelang es ihr, mich ständig zum Lachen zu bringen. Sie war unbekümmert und unbeirrbar in einer Leichtigkeit, die mich staunen machte. Sie war wie die Grille, die in den Sommertag hineinlebte und sich jeden Gedanken an einen Winter verbat. Ihr Vertrauen in den Führer war ungetrübt und mit einer tödlichen Sicherheit
wusste
sie, dass am Ende alles gut werden würde und Deutschland als strahlende Siegermacht aus dem Krieg hervorgehen würde. Manchmal überlegte ich, was Hanna wohl dazu sagen würde, dass der Mann, den ich über alles liebte, in einer Nacht- und Nebelaktion einfach so verhaftet worden war, weil er einem jüdischen Ehepaar geholfen hatte. Doch dann schob ich diese Gedanken weit von mir. Im Moment war Hanna für mich einfach der Mensch, der wieder Fröhlichkeit in mein Leben gebracht hatte.
Schon vom ersten Tag an unternahmen wir vieles gemeinsam. Wir aßen zusammen, wir gingen zusammen spazieren, bisweilen schaffte es Hanna sogar, dass
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