Herbstvergessene
mit einer stillen Wucht, und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schwieg ich. Mein Verhalten in den letzten Wochen fiel mir ein. Sicher, ich hatte Dinge für mich behalten, aber das hatte ich früher auch schon getan. Außerdem waren die Weihnachtstage doch harmonisch und entspannt verlaufen, ich hatte mich so geborgen gefühlt, bei seiner Familie, an seiner Seite. Hatte er das denn nicht gespürt?
»Warum sagst du das jetzt?«
»Ach nichts, es ist nichts.«
»Doch, sag.«
»Ich habe den Eindruck, dass du seit Wochen nicht mehr richtig bei mir bist. Mal abgesehen davon, dass du viel Zeit in Wien verbracht hast. Aber auch wenn wir zusammen waren, warst du irgendwie weg, weit weg. Willst du mir nicht endlich sagen, was mit dir los ist?«
Mir war klar, dass er recht hatte. Doch gerade, als ich mir überlegte, wo ich denn anfangen könnte, klingelte das Telefon. Es war John, der sagte, dass er sich verspäten würde. Als ichzurück in die Küche kam, war Wolf schon dabei, den Tisch abzudecken. Er füllte die Spülmaschine, er wischte den Tisch ab, hin und her, mit präzisen Bewegungen, ich sah ihm zu, in der Tür stehend, und der Moment war vorüber. Er begann zu packen, mit ebenso präzisen Bewegungen. Er verabschiedete sich, ich sagte: »Fahr vorsichtig, bei dem Schnee.« Und dann war er fort. Und ich dachte über das Leben und über die richtigen Momente nach. Und warum man sie vorüberziehen ließ, ohne sie zu nutzen.
Was für eine Ironie des Schicksals, dass Wolf in dem Moment nach Bad Tölz fuhr, in dem ich mich entschieden hatte, ein anderes Leben zu beginnen. Nachdem ich meinen gesamten Pillenvorrat in die Toilettenschüssel geworfen hatte. Während ich den Strauß Tulpen in die Tischmitte zurückstellte, die Kaffeekanne ausspülte und sie aufs Abtropfgestell tat, fühlte ich mich lächerlich. Wie jemand, der sich endlich überwunden hat, einen angefangenen Pullover weiterzustricken, in einem für ihn eigentlich zu komplizierten Muster, und nicht merkt, wie die Maschen unten sich schon wieder aufzulösen beginnen.
Warum hatte ich Wolf nichts gesagt? Warum hatte ich so lange geschwiegen und ihm nicht parallel zu meinen Erkenntnissen erzählt, welche Ängste ich hatte, wie sehr ich unter den Schuldgefühlen litt, die der Tod meiner Mutter bei mir ausgelöst hatte? Welchen Weg meine Nachforschungen genommen hatten und was ich bis jetzt herausgefunden hatte auf der Suche nach meiner familiären Identität?
So distanziert und auch verletzt hatte ich Wolf nie erlebt. Ich überlegte, wie fatal es war, dass man sich auch von Menschen, die man gut kennt und liebt, ein bestimmtes Bild macht, das sich dann im eigenen Kopf festsetzt. Und da bleibt es dann stehen, für die Ewigkeit festgefroren, auch wenn die Handlung in Wirklichkeit längst weiterläuft und andere Szenen, eine andere Haltung an die Stelle dieses Bildes getreten sind. Für mich war Wolf der Fels in der Brandung, der Mann, dermich liebte und mich so akzeptierte, wie ich war, mit meinen nicht wenigen Marotten. Und so ein Fels bleibt nun mal an seinem Platz, unverrückbar und ewig. Dass einmal der Tag kommen würde, wo Wolf mit meiner Verschrobenheit und meiner Eigenbrötelei nicht mehr zurechtkommen würde, hatte ich schlicht für unmöglich gehalten. Und nun war er offenbar so verletzt, dass er quasi von einem Tag auf den anderen einfach so verschwand. Mit anderen Worten: Er verhielt sich so, wie ich es sonst tat.
Die nächsten zwei Tage verbrachte ich damit, das Aufmaß von Johns Wohnung zu machen, Skizzen der Räume anzufertigen und mit ihm über das Gesamtkonzept zu sprechen. Am liebsten hätte er sein Apartment in eine Art verlassenes Ufo verwandelt, mit viel Metall, Kunststoff mit abgerundeten Ecken und hinterleuchtetem Milchglas. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abhalten, das alte Eichenparkett mit den Einlegearbeiten herausreißen zu lassen und die Jugendstil-Prägung der Wohnung völlig zu zerstören.
Am Mittwoch, dem dritten Tag von Wolfs Abwesenheit, klingelte mein Handy. Ich erkannte die Stimme nicht gleich, die Verbindung war schlecht, es rauschte und hörte sich sehr weit weg an. Im ersten Moment glaubte ich noch, es sei Wolf, der sich seit seiner Abreise nicht mehr gemeldet hatte, doch der Teilnehmer rief mehrere Male – die Worte von Aussetzern zerhackt: »Hallo, Frau Sternberg?« Und dann erkannte ich ihn. Es war Roman Sartorius.
Die Tage gingen ins Land, ich versah meine Dienste, in dieser Woche war ich mit
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