Herbstvergessene
ist, war die stumme Frage, die ich mir permanent stellte und auf die ich keine Antwort mehr erhalten würde: Was hatte sie mir sagen wollen, vor meiner Abreise aus Wien?
Lore Klopstock war an einer Überdosis Insulin gestorben. Dass Lore zuckerkrank gewesen war, hatte ich gewusst, aber dass es ihr so schlecht gegangen war! Erna berichtete, dass man nicht sagen konnte, wann es geschehen war. Nur dass sie tagelang tot in ihrer Wohnung gelegen hatte. Ein Nachbar hatte angegeben, sie das letzte Mal am 22. Dezember gesehen zu haben. Der Tag, an dem sie mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte.
Als ich zu Hause ankam, war es schon dunkel und Wolf war nicht da. Im ersten Moment war ich enttäuscht, doch dann auch erleichtert, denn ich war aufgewühlt und wollte alleine sein und nicht reden müssen. Auch wollte ich in Ruhe die mitgebrachten Briefe und Fotos durchsehen. Ich ließ mir Badewasser ein, schüttete reichlich Rosenöl dazu, holte die angebrochene Flasche Ramazotti aus dem Kühlschrank und tauchte in das viel zu heiße Wasser. Die ganze Zeit über dachte ich an Lore Klopstock. Wie sie tagelang allein in ihrer Wohnung gelegen hatte – noch dazu über Weihnachten. Frau Stalmann fiel mir ein und das bunte und laute Familienleben, das sie führte. Ihr würde das nicht passieren. Da wäre immer irgendeine Tochter oder ein Sohn und irgendwann einmal ein Enkel. Und nicht zum ersten Mal schob sich die Frage in mein Bewusstsein, wie
meine
Zukunft aussehen würde.Vielleicht würde Wolf vor mir sterben, vielleicht würden wir gar nicht zusammen alt werden. Dass Wolf sich im Grunde Kinder wünschte, am liebsten viele, wusste ich seit Langem. Sicher, er liebte mich, doch wie lange konnte so eine Liebe überleben, wenn die Vorstellungen von beiden Partnern so grundlegend auseinanderklafften? Mich hatte immer die Vorstellung belastet, in »so einem Fall« mit dem Rauchen aufhören zu müssen. Ansonsten hatte auch ich in den letzten Jahren manchmal darüber nachgegrübelt, wie es wäre, eine Tochter oder einen Sohn zu haben. Ich war jetzt 41 Jahre alt – allzu lange durfte ich mir über das Thema keine Gedanken mehr machen. Brauchst du auch nicht, flüsterte eine giftige Stimme irgendwo in mir, denn bald hat sich das von selbst erledigt! So wie Lore Klopstock wollte ich nicht enden. Und so wie Mutter auch nicht, wisperte dieselbe Stimme mir zu. Überhaupt erschien mir Krebs als eine so furchtbare Krankheit, dass ich nach Möglichkeit Augen und Ohren verschloss, wenn jemand irgendetwas davon erzählte. Ich trank das Glas in einem Zug leer und schenkte mir Ramazotti nach. Mein Blick streifte die Pillenschachtel, die auf der Ablage hinter dem Waschbecken lag. Ich dachte an meinen Gynäkologen und dass er mich bei meinem letzten Termin wohl zum hundertsten Mal darauf hingewiesen hatte, wie ungesund die Kombination Nikotin und Pille war. Dazu kam, dass ich, was das Einnehmen der Pille anging, noch nicht einmal besonders zuverlässig war und ich immer mal wieder einen Tag ausgelassen hatte. Und dass dadurch der Schutz, den mir die Pille bot, sowieso nicht gerade der allersicherste war. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich schoss so schnell aus dem Wasser, dass es überschwappte und ich mich einen Moment lang an der Wand abstützen musste, weil mir schwindlig wurde. Dann stieg ich aus der Wanne, nahm die Schachtel, es war eine gerade erst angebrochene Dreimonatspackung, und begann, die winzigen runden Tabletten in die Toilette zu drücken, hastig, es konnte mir gar nicht schnell genug gehen, und ich hielt erst inne, als alle inder Schüssel schwammen. Und dann spülte ich. »Als Nächstes sind die Zigaretten dran«, murmelte ich vor mich hin. Aber das hatte Zeit bis morgen.
Nach dem Baden machte ich es mir auf dem Sofa bequem. Ich legte eine Zarah-Leander-CD ein, ich wollte, auch wenn es lächerlich war, die Stimmung einer längst verwehten Zeit spüren. Das Manuskript fiel mir wieder ein und dass ich es auch auf dem Dachboden von Omas Haus nicht gefunden hatte. Und wohl auch sonst nirgends finden würde, denn inzwischen hatte ich wirklich an allen nur möglichen Orten gesucht.
Ich lehnte mich zurück und begann die Briefe zu sichten, die ich aus Lindau mitgebracht hatte. Der Ramazotti hatte meine Bedenken verwischt und mit den Pillen hatte ich sämtliche Zurückhaltung gegenüber Großmutters Privatangelegenheiten hinweggespült. Bald stellte ich fest, dass der Schuhkarton tatsächlich sehr private Briefe
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