Herbstvergessene
enthielt: Es waren Liebesbriefe von Opa Gustav an Charlotte. Junge Leute glauben wohl immer, dass die jeweils ältere Generation in Liebesdingen schamhafter gewesen ist, jedenfalls hatte ich automatisch angenommen, dass »bestimmte Dinge« zwischen den Geschlechtern einfach nicht zur Sprache gekommen wären. Natürlich hatte auch ich gewusst, dass unsere Großeltern nicht die ganze Zeit Mensch-ärgere-dich-nicht miteinander gespielt hatten oder Händchen haltend in der Wochenschau gesessen hatten. Aber eine derartige Offenheit, wie ich sie in Gustavs Briefen an Charlotte fand, hatte ich nicht erwartet. Nachdem ich ein paar Seiten gelesen hatte, legte ich die intimen Geständnisse und Liebesbezeigungen meines Stiefgroßvaters peinlich berührt beiseite und wandte mich den Karten zu. Da waren – bunt gemischt – Ansichtskarten aus den Fünfzigern mit Grüßen vom Lago Maggiore, vom Comer See oder auch aus Norwegen. Und dann hielt ich plötzlich zwei Glückwunschkarten in der Hand, die in einem Umschlag gesteckt hatten, zusammen mit einem kleinen, in eine hauchdünne Serviette gewickelten Gegenstand. Ich löste das Band, das darum geschlungen war, undhielt einen kleinen Löffel in Händen. Das Silber war angelaufen, schwärzlich, und auf der Rückseite war eine Gravur.
» PQ «
stand dort in verschnörkelten, ineinander verschlungenen Lettern. Ich drehte den Löffel in der Hand und betrachtete ihn eine Weile. Dann nahm ich die erste der beiden Karten. Sie war an ein gewisses »Emmilein« gerichtet und mit »Hanna« unterschrieben. Ich versuchte, die Schrift zu entziffern, und nach einigem Rätselraten gelang es mir auch.
Allerliebste Freundin! Zur Namensweihe die herzlichsten Wünsche, viel Glück und viel Freude mit dem kleinen Sonnenschein. Der Tauflöffel soll Euch immer an Euer Tantchen erinnern. In Freundschaft und Liebe, Hanna .
Der Text auf der zweiten Karte lautete:
Zur Namensweihe. Denn es werden die Kinder sein, die reinen Geistes und reinen Blutes das Erbe der Väter in die Welt tragen und den großdeutschen Gedanken Wirklichkeit werden lassen. Heil Hitler! Dr. med . Heinrich Sartorius. S S-Belegarzt , Heim Friesland.
Ich hob den Blick. Nein, ein Widerstandskämpfer war Sartorius offenbar nicht gewesen. Und die Namensweihe, so wusste ich aus meiner Lektüre, war für die Nationalsozialisten dasselbe gewesen wie für Christen die Taufe. Oder hätte es zumindest sein sollen. Auf jeden Fall hatte ich es jetzt sogar schriftlich, dass Sartorius und Charlotte sich gekannt hatten. Aber wer diese Hanna war, würde ich wahrscheinlich nie herausfinden – und wo das verschwundene Manuskript war, wohl auch nicht. Diese Sache musste ich anscheinend endgültig ad acta legen.
Ich wandte mich wieder dem Karton zu und suchte weiter. Der Frage nach der Identität des dunkelhaarigen Kindes auf Charlottes Arm war ich noch keinen Schritt nähergekommen. Ich suchte weiter, nach anderen Briefen oder Karten, die mehr Licht in die Angelegenheit hätten bringen können. Doch außer weiteren Liebesbriefen und Ansichtskarten von allen möglichen Bekannten fand ich nichts. Enttäuschung machte sich in mir breit. Statt dass ich mich einer Art Antwort näherte,tauchten neue, andere Fragen auf. Ich trat auf der Stelle. Ich zog den Karton mit den Bildern heran, mein zweites Beutestück vom Speicher in Charlottes Haus, und zündete mir eine Zigarette an – die erste nach meinem Bad und meinem guten Vorsatz. Heute durfte ich ja noch! Dann holte ich einen Packen Fotografien heraus. Charlotte war wirklich eine Schönheit gewesen! Ich musste lächeln. Sie hatte aber auch verschiedene Phasen durchgemacht, dachte ich, während ich die Bilder – zum Teil mit gezacktem Rand – durchblätterte. Auf einigen sah sie aus wie ein Vamp, wie Mata Hari. Die Augenbrauen zu schmalen Bögen gezupft oder gänzlich entfernt und stattdessen aufgemalt. Und dieser Herzmund! Dramatisch rot in einem blass geschminkten Gesicht. Ich blätterte weiter, ordnete die Bilder vor mir auf dem Tisch an. Ja, aufgrund ihrer Aufmachung konnte man die Bilder nach Epochen ordnen. Ich machte vier Stapel: die Farbaufnahmen »neueren« Datums, also 50er- und 60er-Jahre-Bilder, die Mata-Hari-Fotos und zuletzt Aufnahmen, auf denen sie ganz jung gewesen sein musste. Von dieser Sorte gab es nur drei, ausgenommen natürlich das Foto mit dem unbekannten Kind, das ich in Wien bekommen hatte. Ich betrachtete sie genauer: Auf einem trägt sie einen hellen Mantel und ihr Haar ist
Weitere Kostenlose Bücher