Herbstvergessene
hochgesteckt. Nur ein paar Strähnen haben sich gelöst und leuchten in der Sonne, ganz hell, pures Licht. Ihr Gesicht ist völlig ungeschminkt. Vor sich her schiebt sie einen Kinderwagen, so ein altmodisches Vehikel, weiß, aus Korbgeflecht und mit riesenhaften Rädern. Sie lächelt in die Kamera. Und wie auf dem Bild mit dem unbekannten Kind sieht sie so glücklich aus. Und dann gab es noch zwei Bilder, die irgendwann im Sommer aufgenommen worden waren: Auf einem sitzt sie auf einer Terrasse in der Sonne vor einem schmiedeeisernen Geländer, die Statue einer Frau mit einem Windhund im Hintergrund. Ich betrachtete das Bild genauer. Und da erkannte ich den Ort: Es war Hohehorst. Dieses Foto war auf der Terrasse von »Heim Friesland« aufgenommen worden. Das andere, letzte Fotodieser Art zeigte Oma vor einem kleinen See, dessen Ufer schilfbestanden war. Hatte Hohehorst nicht einen kleinen Badesee gehabt? Mir war, als erinnerte ich mich vage an das Bild einer »braunen Schwester«, die am Seeufer fotografiert worden war! Ich holte das Buch vom Schreibtisch, blätterte hektisch darin herum und fand, was ich gesucht hatte: Ja, das konnte der See sein. Ich atmete tief durch. Aus irgendeinem Grund hämmerte mein Herz, ich fühlte mich unruhig, nervös. Warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass es da etwas gab, in Oma Charlottes Vergangenheit, etwas Düsteres, Dumpfes, das seine Fangarme nach mir ausstreckte? Aber was sollte das schon sein! Wahrscheinlich brachten mich einfach nur die negativen Schwingungen des Naziregimes aus der Ruhe, die bis in die Gegenwart Unheil ausstrahlten. Jedes Mal, wenn ich im Fernsehen die alten Bilder sah, Ausschnitte aus der Wochenschau, diese Stimmen, überfiel mich das Grauen über all das, was man heute wusste. Auf einmal war ich sehr erschöpft und spürte auch einen gewissen Überdruss. Ich verrannte mich da in eine Idee, in die Vorstellung eines Geheimnisses, das es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte. Und selbst wenn, dachte ich, was sollte sich – in meinem Leben hier und jetzt – verändern, wenn ich dahinterkäme? Wenn es mir wider Erwarten gelingen würde, das vermeintliche Geheimnis zu lüften und irgendetwas hervorzuzerren? Was vorbei war, war vorbei und an Mutters Tod konnten auch alle Geheimnisse der Vergangenheit nichts ändern. Ich streckte mich auf dem Sofa aus, zog mir eine Decke heran und versuchte alle unliebsamen Gedanken zu verbannen. Morgen war Dreikönigstag und am siebten würde ich wieder arbeiten. Irgendwann musste ich dann eingeschlafen sein. Ich träumte wirres Zeug. Von Oma Charlotte, die mir die Augenbrauen abrasieren wollte. Von Sartorius, der mich ansah, unergründlich. Und von Lore Klopstock, die am anderen Ufer eines breiten Flusses stand und mir etwas zurief. Und immer lauter zu schreien schien und immer wilder gestikulierte. Doch sosehr ich mich auch anstrengte, ihre Worte zuverstehen, ich hörte nur das Rauschen des Wassers, das immer lauter wurde und zu einem Donnern anschwoll, so laut, dass ich schrie und mir die Ohren zuhielt. So lange, bis Wolf mich fand, mein Gesicht in seine Hände nahm und ich sah, wie er seine Lippen bewegte, mir etwas Tröstendes zu sagen versuchte. Aber ich verstand ihn nicht.
Der Abend endete damit, dass Wolf und ich miteinander schliefen. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an ihn und er küsste mein Gesicht, die Tränen, die mir völlig unkontrolliert die Wangen herunterliefen. Und auch an Wolf glaubte ich etwas Unterschwelliges, Verborgenes festzustellen, eine Traurigkeit oder Verzweiflung, die mir völlig rätselhaft war. Vielleicht hatten wir uns längst verloren, vielleicht war durch mein langes Schweigen ein Riss entstanden, der sich nie mehr kitten lassen würde. Vielleicht war ich aber auch nur betrunken.
Etwa die Hälfte aller Pensionärinnen, die beim Lebensborn ein Kind bekamen, wollten ihre Schwangerschaft geheim halten. Und damit sie ihr großes Geheimnis auch bewahren konnten, achtete der Lebensborn darauf, sie in Heime zu schicken, die möglichst weit von ihrem Zuhause entfernt lagen. Denn dort war die Wahrscheinlichkeit, jemandem zu begegnen, den man kannte, weitaus geringer.
Alle Heime verfügten über eine eigene Meldestelle und so konnten sich die Frauen gleich nach ihrer Ankunft polizeilich anmelden. Registriert waren sie ab dem Zeitpunkt unter der Anschrift
Lebensborn e. V. , Heim Hohehorst, Post St. Magnus bei Bremen
. Da aber diese Adresse als Postanschrift für ihre Korrespondenz
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