Herbstvergessene
Staubwischen dran, ging mit Hanna spazieren und klatschte mit ihr über die anderen Pensionärinnen und die Schwestern, besonders über Else, die recht launisch war. Ich machte einen Säuglingspflegekurs, nahm an zwei Namensweihen in der großen Halle teil und wurde ansonsten immer unbeweglicher und schwerfälliger. Auch an den Nachmittagen, an denen Hanna beschäftigt war, was häufiger vorkam, schleppte ich meinen schweren Leib durch den Park, vorbei am Rosengarten, und an schönen Tagen setzte ich mich auf eine Bank am See.
An einem garstigen Tag Anfang März, es war kalt und nieselte seit dem Morgen mit einer Beharrlichkeit, die kein Ende fand, konnte ich mich nicht so recht zu meinem nachmittäglichen Spaziergang aufraffen. Stattdessen verbrachte ich die Stunden nach dem Mittagessen auf meinem Bett liegend und lesend. Am späten Nachmittag jedoch fühlte ich mich so schlapp und elend, dass ich spontan beschloss, doch noch an die Luft zu gehen, trotz des Nieselregens. Ich schlüpfte in meinen Mantel, durchquerte die Halle, in der ein paar Mütter saßen und strickten, schnappte mir aus dem Schirmständer am Eingangsportal meinen Schirm. Ich weiß noch, dass ich mit meinen Gedanken ganz und gar bei Paul war und wie zuvor bereits unzählige Male darüber grübelte, ob ich ihn je wiedersehen würde. Die trüben Gedanken drückten mich nieder und ich schritt aus, so schnell mein schwerer Leib es erlaubte. Ich war schon fast auf der gegenüberliegenden Seeseite angelangt, als ich sie sah. Sie stand hinter einer Baumgruppe, halb verdeckt vom grau glänzenden Stamm einer Buche, doch ihr roter Mantel leuchtete in der regenverhangenen Luft. Ichwollte schon rufen, als ich bemerkte, dass sie nicht alleine war. Eine zweite Person, größer und breiter, es musste ein Mann sein, verdeckte für kurze Zeit das Rot. Ich blieb stehen. Ich sah, wie Hanna gestikulierte, ihr rot bemantelter Arm fuhr hin und her. Mit wem sprach sie und warum dort, hinter einem Baum? Ich bückte mich, spähte durch das Geäst, doch die beiden waren jetzt ganz verdeckt von dem Buchenstamm, nur am rechten Rand blitzte es rot. Ich spitzte die Ohren, doch das leise Rascheln des Nieselregens im Laub schluckte die Stimmen fast ganz. In dem Moment hörte ich vom Weg her das Knirschen von Kies. Ich fuhr herum. Ein Stück weiter in Richtung Haus sah ich Schwester Else den Weg entlangkommen. Sie ging schnell und sah angespannt in die Richtung, in der die beiden standen. Ich trat hinter eine große Eibe und sah, wie Schwester Else ihren Schritt verlangsamte und in die Richtung des roten Mantels starrte. Der Kies unter ihren Stiefeln knirschte jetzt nur noch ganz leise, sie schien sich näher an die beiden heranzupirschen. Ich hielt die Luft an. Mein Bauch fühlte sich schwer an und steinhart. Ich wagte nicht, mich zu rühren, was hatte ich auch hinter einem Busch im Park zu suchen? Der Bauch wurde mir immer schwerer, ich legte beide Hände auf den Leib und atmete, ein und wieder aus, ein und wieder aus. Er fühlte sich an wie ein riesenhafter Stein. Unvermittelt fuhr mir ein scharfer Schmerz durch den Unterleib. Ich lehnte mich an einen Stamm. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten, ohne laut aufzustöhnen. Angst stieg in mir auf: Was hatte ich falsch gemacht, war ich zu schnell gegangen, was, wenn etwas mit dem Kind war? Ich wollte mich schon zu erkennen geben und Schwester Else um Hilfe bitten, da hörte ich wieder das Knirschen von Kies und sah, wie sie sich hastig umdrehte und den Weg, den sie gekommen war, zurückrannte. Ich blickte ihr nach, bis sie hinter einer Wegkurve verschwunden war, und richtete mich mühsam auf. Dabei fiel mein Blick noch einmal durchs Gesträuch, wieder sah ich Hannas roten Mantel in der Dämmerung aufflackern. Dann sah ich nichts mehr. Ich war allein und rings um mich war nichts als das Tröpfeln des Regens.
Als ich wenig später unter dem Eingangsportal stand und meinen Schirm ausschüttelte, hörte ich Schritte im Kies. Ich drehte mich um und sah, dass Herr Huber auf die Nebengebäude zuging. Einen Moment lang war ich völlig perplex. Und dann fragte ich mich, was um alles in der Welt Hanna mit Herrn Huber zu schaffen hatte.
Der Klang seiner Stimme ließ meine Knie weich werden und augenblicklich vergaß ich meine Entzugserscheinungen. Ich umklammerte den Apparat fester und rief so laut, als hätte ich es mit einem Schwerhörigen zu tun: »Herr Sartorius, sind Sie das? Ich höre Sie ganz schlecht.«
Er musste
Weitere Kostenlose Bücher