Herbstvergessene
dass ich im Augenblick ausnahmsweise keine Lust auf eine Zigarette verspürte. Seit ich beschlossen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören, gab es für mich eigentlich nur zwei Kategorien von Zeit: Momente, in denen ich keine Lust auf eine Zigarette hatte (und mir dessen bewusst war) und Momente, in denen ich meine eigene Großmutter für einen Glimmstängel verkauft hätte (und die waren bei Weitem in der Überzahl).
Als Ausgleich hatte ich angefangen, mehr zu essen. Eigentlich hätte ich abnehmen müssen, da Wolf bei uns fürs Essen zuständig war. Wie eine gute Mutter kaufte er ein, kochte, deckte den Tisch mit Sorgfalt und Liebe. Als passionierte Raucherin neigte ich eher zu Untergewicht, und seit wir zusammen waren, hatte Wolf ein Auge auf mein Gewicht – er tat alles dafür, dass ich mich
nicht
irgendwann hinter einer Laterne würde verstecken können.
Ich schritt rasch aus, in einem Baum zwitscherten schon die Vögel – waren es Meisen? –, dann verlangsamte ich meinen Schritt, setzte mich auf eine Bank und beobachtete eine Krähe, die in einem Abfallbehälter nach Essbarem suchte. In einem Artikel über Krähen hatte ich gelesen, dass sie vorbeifahrende Autos als Nussknacker benutzten für Walnüsse, die sie nichtselbst aufbekamen. Und während ich an die Walnüsse dachte, bekam ich schon wieder Hunger. Wenn Wolf noch lange wegblieb, würde er mich nicht wiedererkennen. Jedenfalls beschloss ich spontan, mir beim nächsten Bäcker ein oder vielleicht auch zwei Schokocroissants zu gönnen und, wenn ich schon dabei war, auch einen Becher Cappuccino. In diesem Moment bemerkte ich den Mann.
Er ging ein Stück weiter weg auf einem der Pfade, die den Park wie ein Muster zerschnitten. Er hatte dunkles Haar, einen Bart, trug einen Parka und hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Weder sah er besonders auffällig zu mir herüber, noch blickte er absichtlich in eine andere Richtung. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass seine ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet war. Ich sah mich um und entdeckte niemanden sonst. Darum stand ich auf und steuerte den nächstgelegenen Ausgang an. Es war helllichter Tag und ich war irritiert über mich selbst. Das Fehlen von Nikotin verursachte bei mir offensichtlich schwere Wahrnehmungsstörungen. Gleichzeitig fiel mir, ausgerechnet jetzt, der Satz wieder ein, den ich zu Roman Sartorius gesagt hatte: »Ich glaube, dass jemand sie getötet hat.« Und die Gewissheit, die ich in diesem Moment gespürt hatte.
Der Mann lief auf einem Weg, der parallel zu meinem verlief und in diesen mündete. Er ging in der gleichen Geschwindigkeit wie ich. Zum Ausgang des Parks waren es noch rund fünf Minuten und außer uns war niemand hier. Während ich immer schneller ging, aber noch nicht rannte, verringerte sich unser Abstand jetzt. Wir kamen in ein kleines Wäldchen. Ich konnte seine Schritte auf dem Kies hören, aber ich sah mich nicht um. Jetzt war er dicht hinter mir und der Drang zu rennen wurde übermächtig. Der Weg machte eine Biegung, hinter die man nicht sah, weil alles voller Büsche und Bäume stand. Ich ging jetzt so schnell, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Da bog ein Radler um die Kurve. Vor Erleichterung hätte ich ihn umarmen mögen. Ich verlangsamte meinenSchritt, jetzt war es nicht mehr weit bis zum Ausgang. Ich bog nach rechts ab, die rote Jacke einer jungen Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob, tauchte auf. Bevor ich durch das Tor nach draußen ging, sah ich mich um. Aber der Mann war verschwunden.
Nach dem Vorfall im Behandlungszimmer begegnete mir Sartorius mit eisiger Höflichkeit. Wenn ich eine dienstliche Frage an ihn hatte, achtete ich stets darauf, dass noch eine dritte Person zugegen war. Und natürlich lebte ich in Erwartung irgendeiner Reaktion seinerseits. Bei jedem Fehler, der mir zu Beginn meiner Arbeit unterlief, wartete ich förmlich auf eine Zurechtweisung, zumindest eine Rüge oder Kritik. Als Wochen vergangen waren, ohne dass meine Befürchtung wahr geworden wäre, ließ meine Anspannung allmählich nach.
Der Alltag in Hohehorst war streng durchorganisiert. So frühstückten die Schwangeren und die Mütter im »Gotischen«, die Angestellten im Erdgeschoss im Speisezimmer, das auf die große Terrasse hinausging, und die älteren Kinder im Kinderzimmer, wo sie auch untergebracht waren. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die Wöchnerinnen keinen Kontakt zu den Schwangeren unterhielten. Besuche auf der
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