Herbstwald
jetzt nach ihm. Was muss das nur für eine verrückte Welt gewesen sein, wo es schlimmer war, ein Jude zu sein als ein Verräter.«
Ólafur Davídsson nickte stumm. Er hatte vermutet, dass der Straßenname eine scherzhafte Andeutung des Bürgermeisters auf die polizeiliche Arbeit sein sollte. Das Kasperletheater und die Polizei, war ihm durch den Kopf geschossen.
»Die Kriminalinspektion 60 ist leider auf der anderen Seite in der dritten Etage«, sagte Wagner, nachdem er auf einen Zettel aus seiner Hosentasche gesehen hatte. »Wir hätten wohl besser den Besucherparkplatz nehmen sollen. Dann wären wir schneller dort gewesen.«
Michael Knaf saß in Uniform in seinem Büro. Das hellblaue Hemd war akkurat gebügelt und Knaf vermittelte den Eindruck, dass er auch sonst auf Ordnung allergrößten Wert legte. Sein Büro war funktional eingerichtet.
Es gab keine persönlichen Gegenstände auf dem Schreibtisch und es lagen keine Akten herum. Nur ein Ölgemälde, das das hessische Wappen zeigte, hing an einer der Wände. Es war jedoch kaum größer als ein gewöhnlicher Computerbildschirm. Ansonsten waren die Wände kahl und zeigten das eintönige Grau.
Michael Knaf wirkte etwas steif, als er kurz aufstand, um den beiden die Hände zu schütteln. Er war bereits wieder dabei, sich zu setzen, als er seinen Besuchern mit einer Geste zwei Stühle anbot, die offenbar aus einem anderen Büro stammten.
»Es geht um den Fall Schirmer-Lunz«, sagte er und sah abwechselnd Wagner und Davídsson an. Er war sich offensichtlich unsicher, wer von den beiden sein Hauptansprechpartner war.
»Herr Davídsson ist Kriminalanalytiker beim Bundeskriminalamt. Ich habe den Kontakt hergestellt«, erklärte Joseph Wagner, um alle Unklarheiten zu beseitigen.
Knaf nickte und holte eine Akte aus der kirschholzfarbenen Schrankwand hinter ihm. Es war die einzige Akte, die in dem Schrankfach lag.
»Ich habe damals die Sonderkommission geleitet. Zu Spitzenzeiten waren dreiundzwanzig Ermittler bei der ›Soko Japan‹. Mich eingeschlossen. Die wesentlichen Ergebnisse sind hier in diesen Akten zusammengefasst worden. Ich kann mich allerdings auch noch sehr gut an die Einzelheiten erinnern.«
Knaf strich sein Hemd glatt und richtete seine Krawatte, bevor er weitersprach.
»Sind Sie mit den japanischen Mafiastrukturen vertraut? Ist das Yamaguchi-gumi für Sie ein Begriff?«
Davídsson schüttelte den Kopf. Ihm wurde immer klarer, dass Michael Knaf ein unsicherer Mensch war, der vermutlich gerade erst den Aufstieg in den höheren Polizeidienst vollzogen hatte und nun glaubte, dass ihm keiner die neue Rolle abnahm. Davídssons Unkenntnis über sein Fachgebiet würde ihm helfen, Selbstvertrauen zu gewinnen.
»Ja, gut. Dann werde ich wohl etwas ausführlicher davon berichten, als ich es sonst getan hätte. Das Yamaguchi-gumi wurde 1915 in der japanischen Stadt Kōbe gegründet. Zunächst war es nur ein einfacher Zusammenschluss von Händlern, Handwerkern und Arbeitern. Ihr Gründer, Harukichi Yamaguchi, war selbst ein einfacher Fischer. Die anfänglichen Aktivitäten beschränkten sich daher auf die Arbeitsvermittlung von Hafenarbeitern und das Organisieren von Gewerkschaften. 1969 hatte das Yamaguchi-Gumi dann bereits sehr stark mafiöse Strukturen angenommen. Die Ausdehnung über das ganze Land wurde durch mehr als dreihundert einzelne Banden sichergestellt und man war am Wettgeschäft und am Schmuggel beteiligt. Außerdem war das Gumi nach ganz Asien und sogar Europa expandiert. 1991 hatte das Gumi bereits weltweit über 25.000 Mitglieder und kontrollierte wesentliche Teile der japanischen Unterwelt, der Wirtschaft und auch der Politik.«
Knaf hatte die ganze Zeit ohne einen Blick in die Akte erzählt. Jetzt nahm er die Akte wieder zur Hand und warf einen kurzen Blick auf die oberste Seite.
»In den letzten Jahren hat die japanische Polizei hart durchgegriffen. Ermöglicht haben das entsprechende Gesetze, die unter anderem die Verhaftung von zwei führenden Gumi-Mitgliedern ermöglichten. Duzende kleinere Banden wurden infolgedessen aufgelöst. Zwischenzeitlich hat sich das Yamaguchi-gumi auf den Drogenhandel, Internetkriminalität und Menschenhandel konzentriert. In Deutschland und ganz speziell hier im Rhein-Main-Gebiet vor allem auf den Menschenhandel. Vergleichsweise große Erfolge wie bei den Japanern konnten aber in Europa nicht erzielt werden. Das liegt, wie Sie sich sicher vorstellen können, an vielen einzelnen Aspekten. Wir sind
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