Hercule Poirots Weihnachten
Ankunftszeit wusste.»
Harry blickte sich nach allen Seiten um.
«Alle alten Schaustücke noch am alten Platz», stellte er fest. «Ich glaube, es hat sich überhaupt nichts verändert, seit ich vor zwanzig Jahren fortging.»
Er trat ins Wohnzimmer. Der alte Diener murmelte: «Ich werde nun Mr oder Mrs Alfred suchen gehen», und entfernte sich eilig.
Harry Lee hatte ein paar Schritte getan, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Fassungslos und ungläubig starrte er die Gestalt an, die dort auf dem Fenstersims saß. Seine Augen überflogen das schwarze Haar und die gebräunte Haut.
«Allmächtiger!», stieß er endlich hervor. «Sind Sie vielleicht die siebente und schönste Frau meines Vaters?»
Die Gestalt glitt von ihrem Sitz und trat auf ihn zu.
«Ich bin Pilar Estravados», stellte sie sich vor. «Und du musst mein Onkel Harry sein, Mutters Bruder.»
«Dann bist du also Jennys Tochter?»
Pilar überhörte diese Frage. «Warum hast du mich gefragt, ob ich die siebente Frau deines Vaters sei? Hatte er wirklich sechs Frauen?»
Harry lachte. «Nein, ich glaube, er hatte nur eine – offiziell wenigstens. Nun, Pilar, es ist wirklich kaum zu glauben, so etwas Blühendes wie du in diesem Mausoleum anzutreffen.»
«Diesem Maus… was?»
«In diesem Wachsfigurenkabinett. Ich habe dieses Haus immer grässlich gefunden; aber heute kommt es mir lausiger vor denn je.»
«O nein», wandte Pilar hier entschieden, wenn auch mit einer fast ehrfürchtig gedämpften Stimme ein, «es ist sehr schön hier. Die Möbel aus schwerem Holz und die Teppiche – dicke, weiche Teppiche überall – und die vielen, vielen Ornamente. Alles ist von so guter Qualität und so kostbar.»
«Das stimmt allerdings.» Er sah sie belustigt an. «Trotzdem finde ich es sehr witzig, dich hier inmitten –»
Er brach ab, denn Lydia hatte eben das Zimmer betreten.
«Guten Tag, Harry. Ich bin Lydia – Alfreds Frau.»
«Guten Tag, Lydia.» Er schüttelte ihr die Hand, wobei er ihr intelligentes, ausdrucksvolles Gesicht mit einem kurzen Blick musterte und gleichzeitig befriedigt wahrnahm, wie elegant sie sich bewegte. Nur wenige Frauen wussten sich so zu bewegen. Lydia ihrerseits versuchte schnell, sich über den Eindruck klar zu werden, den er ihr machte. Er sieht angeberisch aus, aber nicht abstoßend. Trotzdem würde ich ihm nicht von hier bis da trauen, dachte sie. Laut sagte sie lächelnd: «Nun, wie sieht es hier nach so vielen Jahren aus? Sehr verändert?»
«Ziemlich unverändert.» Er sah sich um. «Dieses Zimmer wurde umgestellt.»
«O ja, verschiedentlich, und zwar durch mich.»
Er lachte ihr mit einem plötzlichen, koboldartigen Grinsen zu, das sie an den alten Mann im oberen Stock erinnerte.
«Es hat jetzt viel mehr Klasse. Man hat mir ja seinerzeit berichtet, der gute alte Alfred habe ein Mädchen geheiratet, dessen Vorfahren mit dem Eroberer herüberkamen.»
Lydia lächelte. «Ja, ich glaube. Aber sie haben sich enorm vermehrt seit jenen Tagen.»
«Und wie geht es Alfred?», fragte Harry. «Ist er immer noch der gleiche Reaktionär?»
«Ich habe keine Ahnung, ob du ihn verändert finden wirst.»
«Und was machen all die anderen? Sind sie über ganz England verstreut?»
«Nein – sie werden zu Weihnachten alle hier sein.»
Harry riss die Augen weit auf. «Was? Ein richtiggehender Familientag? Früher war er doch gar nicht sentimental. Hat sich nie einen Deut um seine Familie gekümmert. Er muss sich sehr verändert haben.»
«Vielleicht.» Lydias Stimme klang trocken.
Pilar hörte wortlos und interessiert zu.
«Und George? Noch immer ein alter Geizkragen? Wie der sich aufregen konnte, wenn er einmal einen halben Penny von seinem Taschengeld hergeben musste.»
«George ist Parlamentsmitglied, Abgeordneter für Westeringham.»
Harry warf den Kopf zurück und lachte schallend.
«Unser Dickerchen im Parlament? Das ist ja komisch!»
Sein hemmungsloses Lachen klang fast brutal und schien den Raum zu sprengen. Pilar hielt den Atem an, und auch Lydia zuckte leicht zusammen.
Dann, als Harry eine Bewegung hinter sich hörte, brach seine laute Heiterkeit jäh ab. Alfred stand hinter seinem Bruder und musterte ihn mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck.
Zuerst starrte Harry ihn bewegungslos an; doch dann überflog ein Lächeln sein Gesicht. Er trat einen Schritt vor.
«Nein, so etwas! Das ist ja Alfred!»
Alfred nickte. «Hallo, Harry», sagte er steif.
Wie absurd, dachte Lydia. Da stehen sie sich
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